Antiquariat

Deutsche Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts

13. Februar 2009
Redaktion Börsenblatt
Katalog 71 des Berliner Antiquariats Wolfgang Braecklein präsentiert den ersten Teil der Bibliothek F. Georg Miller, Düsseldorf. Eine Besprechung von Werner Kohlert.
Ich kannte den Düsseldorfer Sammler Dr. F. Georg Miller nicht. Sehe ich aber die Fotos von seiner Bibliothek, überfliege den Katalog, lese seine Arbeit über Karl Philipp Moritz und sehe sein Porträt am Ende des Katalogs, dann kann ich mir ungefähr vorstellen, wer und wie dieser Mensch war. Hilfreich kommt hinzu, dass der Berliner Antiquar Wolfgang Braecklein im ersten Teil des auf fünf Verkaufskataloge innerhalb von zwei Jahren berechneten Unternehmens die Persönlichkeit des ehemaligen Besitzers dieser Sammlung aus persönlicher Sicht skizziert hat. Georg Miller wurde 1936 in Berlin geboren, studierte Jurisprudenz und arbeitete als Wirtschaftsanwalt, spezialisiert auf Unternehmensrecht. er verstarb nach mehrjähriger Krankheit im Januar 2008, "inmitten seiner Bücher, wie er es sich gewünscht hat". Zur Stuttgarter Antiquariatsmesse erschien Teil I: Deutsche Literatur und illustrierte Bücher des 18. und frühen 19. Jahrhunderts – Vignettenbücher des Rokoko – Die Welt des Sturm und Drang. Mit umfangreichen Werkfolgen von Gessner, Klinger, Knigge, Moritz, Wezel und Wieland. Seine Sammlung beinhaltete aber nicht nur deutsche Literatur, sondern auch Bücher aus Renaissance, Humanismus und Aufklärung, griechische und lateinische Autoren, Narratives von der Novelle über Märchen zu Volksbüchern bis zur Trivialliteratur sowie französische, italienische und englische Werke des 16. bis 18. Jahrhunderts. Insgesamt über 3.000 Titel. Mit den Katalogen wird dann Millers Bibliothek dokumentiert. "Die Bücher sollen durch ihren Verkauf anderen Sammlern die Glücksmomente verschaffen, die er bei deren Erwerb selbst empfunden hat", schreibt der Antiquar und berichtet weiter, dass Millers Vermieter Sorge um die Tragfähigkeit seiner Immobilie wegen des immer wachsenden Bücherberges hatte. So musste Miller eine größere Wohnung für seine Schätze anmieten. Dass derartige Büchermengen nicht in jedem Falle bibliophilen Ansprüchen entsprechen, lässt sich leicht denken, zumal die deutsche Literatur in Millers Anfänge seiner Sammeltätigkeit fällt. Jeder Bücherfreund weiß, wie lange es dauert, bis Verstand und Gefühl in Einklang kommen und das Buch als ein Gesamtkunstwerk begriffen wird. "Miller legte zwar schon früh Wert auf den zeitgenössischen Einband", berichtet Braecklein, "doch waren ihm die Inhalte, die die Bücher transportierten, wichtiger als deren formale Schönheit… Primär begriff er sich als Geistesmensch, der die Entwicklung europäischer philosophischer und politischer Ideen begreifen und sein Verständnis sammlerisch nachzeichnen wollte." Wie sehr Miller inhaltlich orientiert war, zeigen auch viele Titel in zweiter und dritter Auflage, selbst vor einigen inkompletten Ausgaben schreckte er beim Kauf nicht zurück. Dennoch finden sich viele schöne Einbände, die der Katalog an Beispielen farbig abbildet, und viele Vorzugsausgaben auf besserem Papier, weil oft nur diese mit zusätzlichen Illustrationen ausgestattet sind. Hier zeigt sich Millers Liebe zum Bild aus der Epoche der Anakreontik, die besonders reich an solchen Exemplaren im Katalog vertreten ist. Die Dichter und Schriftsteller dieser Zeit, heute vielfach vergessen, haben verdienstvoll gewirkt an einer niveauvollen Buchkultur von Schönheit, Anmut und Grazie. Niemand wird erwarten, hier alle Bücher besprochen zu finden. Aber welcher Titel verdient, hervorgehoben zu werden? Eine willkürliche Auswahl löst das Problem ebenso wenig wie eine Auslese nach den teuersten oder seltensten Büchern. So bekenne ich mich zu einer Wahl nach meinem Gusto: Bücher, die ich gern meiner Bibliothek einverleiben möchte. Auch weil ich mit Miller dahin übereinstimme, dem Inhalt das Primat zu geben, Illustrationen liebe und mit den Jahren gelernt habe, das bibliophile Buch zu schätzen. (Herder, Johann Gottfried).Volkslieder. 2 Bände. Leipzig 1778–1779. (Nr. 245). Spätere Auflagen erschienen unter dem Titel "Stimmen der Völker in Liedern". Goethe lieferte drei Beiträge. Das "Röschen auf der Heide" ist der bekannteste. Überhaupt enthält der Katalog viele Sammlungen von Gedichten, Liedern, Oden, Gesängen, Romanzen und Elegien aus dem 18. Jahrhundert. Eine Fundgrube für Liebhaber dieses Genre. Wie gering Millers Interesse am 19. Jahrhundert war, belegt allein das Fehlen von "Des Knaben Wunderhorn" von Arnim/Brentano, wie auch die Romantiker selbst wenig vertreten sind. Moritz, Karl Philipp. Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. 4 Teile in 2 Bänden. Berlin, 1785–1790. Dazu Karl Friedrich Klisching. Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Fünfter und letzter Theil. Berlin 1794. (Nr. 487). Bedarf es einer Begründung zur Wahl von diesem Titel? Nicht für diejenigen, die Moritz kennen; für jene, die von seinem Anton Reiser noch nichts gehört haben, bedürfte es eines eigenen Beitrags. Arno Schmidt lobt: "Ein Buch, wie es kein anderes Volk der Erde besitzt." Braecklein fügt verdienstvoll dem Katalog einen Essay von Miller aus dem Jahre 1977 bei, aus dem zu entnehmen ist, wie sich Miller in Moritz spiegelt. Ähnlich wie Goethe, den er mit dem Bekenntnis zitiert: "Er ist wie ein junger Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und verzogen bin." Auch sei Moritz kein "Schreckensmann" – in dessen Kategorie ihn Arno Schmidt steckte. Er sei, so Miller, "viel zu vielschichtig, milde, menschlich, weich und hinfällig… Alles ziemlich undeutsch… Sein Leben und Schreiben scheint zu sehr die Welt in Frage zu stellen … der Versuch, in einer politisch zerrissenen Nation eine 'Seelengemeinschaft' herzustellen.“ Trifft das, fragt Braecklein, nicht alles auf Miller selbst zu? und resümiert: "Hier kann man Millers Welt im Kern verstehen lernen." Alle Freunde und Bekannten von Moritz sind auch Millers Autoren in seiner Bibliothek: Klopstock, Voß, Campe, Wezel, Musäus, Claudius, Mendelssohn, Salomon Maimon, Wieland; aber auch Goethe, weniger Schiller, merkwürdiger Weise fehlt J. M. R. Lenz gänzlich. Bemerkenswert ist die Provenienz dieses Exemplars vom "Anton Reiser": Ein Exlibris verweist auf Leopold Hirschberg, ein handschriftlicher Vermerk Millers auf Salman Schocken; beides berühmte Büchersammler. Auch an Gessner-Titel bietet der Katalog eine reiche Auswahl. Dieser Schweizer Künstler war alles in einer Person: Schriftsteller, Illustrator, Drucker und Verleger. Einen Höhepunkt seiner zahlreichen Veröffentlichungen in vielen Auflagen und Sprachen sind: Gessner, Salomon. Schrifften. 2 Bände in 1. Mit 2 radierten Titeln, 20 radierten Tafeln und 40 radierten Vignetten, alle von Gessner, sowie kleinen Zierstücken in Holzschnitt. Zürich, beym Verfasser, 1777–1778. (Nr. 169). Diese Quartausgabe sollte Gessners gesamtes Oeuvre in vier Bänden enthalten, leider erschienen die fehlenden aus unbekannten Gründen nicht. Von Gessner führt eine gerade Linie zu den Gartenbüchern. Zum Beispiel: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz. Theorie der Gartenkunst. 5 Bände in 3. Mit 5 gest. Titelvignetten, 7 Kupfertafeln und 231 Textkupfern nach Schuricht, Zingg u. a. von Crusius, Geyser, Liebe u. a. Leipzig, 1779–1785. (Nr. 278). Oder: Becker, Wilhelm Gottlieb. Das Seifersdorfer Thal. Mit gestoch. Titelvignette von Darnstedt nach Schurich und 40 Radierungen auf Tafeln von Darnstedt. Leipzig und Dresden, 1792. (Nr. 23). Wie kommt diese Thematik in Millers Bibliothek? Es ist der Weg von seinen Träumen zur Realität, von der Idylle zur – wenigstens teilweisen – praktischen Verwirklichung. Mit 52 Nummern ist Martin Wieland, der unbeachtetste der Vier Großen von Weimar, vertreten. Kein geringerer als Jan Philipp Reemtsma kommt an dieser Stelle im Katalog zu Wort. Sein Beitrag zu Ehren des Vergessenen ist kurz, dafür umso eindringlicher in der Mahnung. Er gipfelt in dem apodiktischen Satz: "Ohne Wieland gäbe es Weimar nicht." Wielands frühe Einzelveröffentlichungen fehlen in Millers Bibliothek. Poetische Schriften. 3 Bände in 1. Zürich 1762. (Nr. 774) eröffnet den Reigen. Es folgen alle bekannten Titel, oft in verschiedenen Auflagen und im Raubdruck. In der Regel von Mechau oder Oeser illustriert und von Geyser gestochen. Wieland war, im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Autoren, ein Schriftsteller, der viel Wert legte auf das ästhetische Erscheinungsbild seiner Veröffentlichungen. Hiermit möchte ich meine Auswahl beschließen, wenngleich noch viele Wünsche offen bleiben. Vielleicht hat mancher Leser in dieser Rezension mehr über das Angebot und die Preise zu erfahren gewünscht als über die Beziehungen des Sammlers zu seinen Büchern. Für Besprechungen der meisten Kataloge mag das auch stimmen, denn die Offerten sind in der Regel ein Sammelsurium, mehr oder weniger zufällig zusammen gekommen, und die Herkunft bleibt anonym. Hier liegt der Fall anders. Wir können explizit erfahren, was eine Bibliothek ausmacht, endgültig freilich erst, wenn alle fünf angekündigten Kataloge vorliegen. Miller 'steckt' in jedem seiner Bücher, und sie hängen wie an einer Kette alle zusammen. Deshalb möchte ich am Ende meiner Betrachtung nochmals auf den Stifter dieser Bibliothek zurückkommen. Wüsste man von allen seinen Büchern auch das Datum ihrer Anschaffung, könnte man der Spur von seinem Denken ziemlich genau nachgehen. Denn jeder Büchersammler weiß, dass ein neu hinzu gekommener Titel wohl eine Lücke schließt, aber zahlreiche neu aufreißt. Wie sehr er aber inhaltlich und emotional mit jedem seiner Bücher verbunden war, zeigt eine Marginale in Lessings Nathan der Weise. (Nr. 434). Auf den fliegenden Vorsatz vermerkte er: "Diesen Exzess habe ich mir an Lessings 300. Geburtstag gegönnt, indem ich dieses Buch am 22.1.79 für DM 2500.– bei Kaldewey bestellte." Rechnen war scheinbar nicht Millers Stärke, dafür seine bohrende Suche nach Antworten, was die Welt im Innersten zusammenhält. "Alles was unsere heutige westliche Gesellschaft und Kultur prägt", sagte er, "ist mit Blut und Tränen gegen Vorurteile, gegen die Kirche und gegen die herrschenden westlichen Mächte erkämpft worden." Ein summa summarum, das Georg Miller nicht zuletzt seiner Bibliothek zu verdanken hatte. Werner Kohlert Der Katalog kann gegen eine Schutzgebühr beim Antiquariat Wolfgang Braecklein bezogen werden. Außerdem steht eine kostenlose PDF-Fassung zur Verfügung: