Von der Großen Depression der 1930er Jahre gilt es Folgendes zu lernen: Der Rückzug, reflexartig, in das nationale Schneckenhaus ist fatal was droht, wird real: der Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Damals wie heute gilt, die nationalen Probleme können nicht länger im nationalen Rahmen mit nationalen Mitteln gelöst werden.
Die Nationalstaaten, die immer noch daran glauben und das versuchen, gleichen einem Betrunkenen, der in der Finsternis der Nacht seine verlorene Geldbörse im Lichtkegel einer Straßenlaterne sucht. Auf die Frage: »Haben Sie denn Ihre Geldbörse hier verloren?«, antwortet er: »Nein, aber im Lichtkegel kann ich wenigstens danach suchen!« Uneingestandenes Nicht-Wissen und globale Finanzrisiken sind zwei Seiten desselben!
Das hat auch die Situation der Kulturkritik dramatisch verändert. Was den Einwohnern der Weltrisikogesellschaft einen anthropologischen Schock einjagt, ist nicht mehr die metaphysische Obdachlosigkeit eines Becketts, der ausbleibende Godot, oder die Kontrollhorrorvisionen eines Foucault, auch nicht die stumme Rationalitätsdespotie, die Max Weber schreckte. Was den Zeitgenossen heute ängstigt, ist die Ahnung, das Gewebe unserer materiellen Abhängigkeiten und moralischen Verpflichtungen könnte zerreißen und das empfindliche Funktionssystem der Weltrisikogesellschaft zusammenbrechen. So steht alles auf dem Kopf: Was für Weber, Adorno und Foucault ein Schreckensgemälde war die perfektionierte Kontrollrationalität der verwalteten Welt , ist für die potenziellen Opfer der Finanzrisiken (also alle) ein Versprechen: schön wärs, wenn die Kontrollrationalität kontrollieren würde; schön wärs, wenn nur der Konsum und der Humanismus uns terrorisieren würden; schön wärs, wenn die Störungsfreiheit der Systeme durch die liturgische Formel »mehr Markt bitte!« wieder herstellbar wäre.
Was könnte das Gute am Schlechten sein? Dass der nationalstaatliche Egoismus sich um seiner selbst willen kosmopolitisch öffnen müsste. Die Welt stünde besser da mit einem schnelleren, möglicherweise kleineren, vor allem aber global koordinierten Rettungspaket, das entscheidende Anreize schafft für den privaten Konsum in China, Japan und der Europäischen Union, das gleichzeitig durch staatliche Interventionen den öffentlichen Sektor in den USA ankurbelt und das schließlich neben diesen Sofortmaßnahmen dann vor allem auch ein längerfristiges Zukunftsprogramm für die Stabilisierung und Restrukturierung des Weltfinanzsektors entwirft.
Was bisher getan wurde: Die Blankoschecks für Pleitebanken scheinen weitgehend verpufft zu sein. Unvorstellbare Milliarden Dollar, Pfund, Euro wurden offenbar verpulvert. Jedenfalls rollt die Lawine der drohenden Weltwirtschaftskatastrophe ungebrochen weiter. Die Arbeitslosigkeit explodiert global, die Druckwellen sozialer Unruhen und der Fremdenfeindlichkeit erschüttern bereits Europa. Aber die Regierungen suchen mehr denn je im Lichtkegel ihrer nationalstaatlichen Straßenlaternen nach der verlorenen Sicherheit der Weltfinanzmärkte.
Wir leben in einer Könnte-Gesellschaft: Das Gipfeltreffen der 20 wichtigsten Industriestaaten im April könnte die Wende zu einer kooperativen Politik bringen. Auf diese Weise könnte die Antizipation der Katastrophe einen Quantensprung des kollektiven Lernens auslösen, der die Katastrophe verhindert. Aber dieses Könnte, die Gesellschaft des Konjunktivs, bietet auch ganz andere Möglichkeitsperspektiven worüber Sie täglich in allen anderen Zeitungen lesen könnten.
Vom Autor erschien zu dem Thema das Buch »Weltrisikogesellschaft« (Suhrkamp 2007)
Mehr zum Thema von Ulrich Beck in »Weltrisikogesellschaft« (Suhrkamp 2007)
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