Erstlesebücher

Didaktik oder Fantasie?

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Liefern Erstlesereihen das, was Kinder brauchen? Oder lassen pädagogisch ausgefeilteKonzepte kaum noch Platz für gute Geschichten? Zwei Meinungen dazu:

Bettina Kraemer, Diplom-Bibliothekarin  und Leiterin des Lektorats beim Borromäusverein in Bonn, meint:
»Pisa sei Dank: Auf jeden lesewilligen Grundschüler wartet eine Unmenge verschiedenster Erstlesereihen. Bunt kommen sie daher und verheißen, aufwendig gearbeitet, kurzweilige Stunden. Doch schnell ist er verflogen, der erste Rausch des Selbstlesens. Statt ­poetischer, origineller, inspirierender Lektüre findet der Erstleser oft einfallslos erzählte Massenware, erwarten ihn weitere austauschbare Geschichten von Rittern, Prinzessinnen, Piraten, Hexen oder Delfinen, dazu anspruchslose, bestenfalls niedliche Illustrationen.
Sicher, jeder Leser taucht gern einmal ab in das Reich der Fantasie und des Abenteuers, aber darf dann nicht wenigstens ein Mindestmaß an literarischer Qualität erwartet werden? Doch die sucht man, ebenso wie Geschichten, die echte Kinderprobleme aufgreifen, in der Masse der Erstlesetitel oft vergeblich.
Einzusehen, dass man bei der Erarbeitung von Erstlesebüchern auf didaktische Spiel­regeln achten muss – Lesenlernen ist ja zuweilen ein mühsames Geschäft. Doch sollte dabei nicht vergessen werden, dass bei aller didaktischen Notwendigkeit eine packende, gute Geschichte der beste Lesemotivator ist. Daher ist der Mut einiger Verlage nicht hoch genug zu bewerten, die abseits des Reiheneinheitsbreis innovative, originelle und sicher nicht immer den breiten Geschmack treffende Erstlesebücher anbieten und damit ihren Lesern die Tür in die wunderbare Welt der Literatur öffnen.«


Dominik Nüse, Pressesprecher des Loewe Verlags in Bindlach, meint:
»Es wäre schön, wenn jedes sechsjährige Kind mit Lust und der notwendigen Lesekompetenz zu vermeintlich hoher, sprich: komplexer Literatur greifen würde. Dem ist aber im Regelfall nicht so: Unter Leseanfängern gibt es erhebliche Unterschiede beim Leseverständnis wie bei der Motivation.
Kinder im Leselernalter brauchen Bücher mit Themen, die eng in ihrer Alltags- und Erfahrungswelt verwurzelt sind, Bücher, die auf die Entwicklungsstufen des komplexen Leselernprozesses zugeschnitten sind. Erst dann macht es Sinn, sie mit abstrakteren Plots und gebrochenen Charakteren zu konfrontieren, mit ihrer Erfahrungswelt literarisch zu spielen. Aber um für diese Art von Literatur bereit zu sein, muss das Lesen mit Spaß trainiert worden sein.
Und wenn Erstleser am liebsten von Piraten, Prinzessinnen und Pferden lesen wollen, dann sollten diese Themen auch bedient werden. Titel wie »Leselöwen-Scheidungsgeschichten« mag sich niemand ernsthaft vorstellen. Die Kriterien für Erstleseliteratur führen an den Haupteinsatzort: die Schule. Lesen lernt man nur durch lesen. Und man liest, was einen interessiert. Vielen Schülern wurde nie vorgelesen, ihnen fehlen grundlegende Erfahrungen mit Texten, was anspruchsvollere Bücher zum reinen Fantasma werden lässt. Statt idealistischer Ziele gilt es, einen realistischen Blick auf die Gegebenheiten zu werfen.«