Grundkurs Typographie

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Was haben das Börsenblatt und Louis Braille gemeinsam?
Ich will Ihnen die Antwort verraten, aber jetzt noch nicht. Ein bisschen Spannung muss schließlich auch sein. Also erzähle ich Ihnen zunächst noch etwas anderes … Was halten Sie davon, wenn ich über den Typographiekurs spreche, den ich im vergangenen Semester besucht habe? Nicht viel? Ich tue es trotzdem. Denn dieses Seminar fand ich gleichermaßen absurd und faszinierend. Denn in der typographischen Gestaltung begegnen einem zum Beispiel so merkwürdige Dinge wie Leichen, Witwen oder Jungfrauen, ganz zu schweigen von den allseits bekannten Hurenkindern und Schusterjungen. Aber noch weit verstörender finde ich die Schrift der Sehenden selbst; die Schwarzschrift, wie wir Blinden sie nennen.
Immer sagen alle, die zum ersten Mal mit unserer Punktschrift zu tun bekommen, dass diese so kompliziert sei. Viele der Sehenden bewundern uns Blinde dafür, dass wir die Brailleschrift lesen können. Aber warum denn eigentlich? Das Einzige, was ich dafür brauche, ist Fingerspitzengefühl. Darüber hinaus ist die Schrift der Blinden doch vergleichsweise leicht zu verstehen.
Das glauben Sie mir nicht? Na gut, dann lassen wir es eben auf einen Vergleich ankommen:
In der Schwarzschrift gibt es verschiedene Schriftarten, -grade und -schnitte. In der Punktschrift nicht. In der Punktschrift wird auch nicht zwischen staatischen und dynamischen Schriften unterschieden. Wir kennen keine verschiedenen Strichstärken, da unsere Schrift nur aus Punkten besteht. Die Dickte oder auch der Durchschuss verändern sich hier niemals. Ein optischer Schriftweitenausgleich ist ebenfalls nicht vorgesehen. Stattdessen steht jedes Zeichen stets gleich weit vom vorherigen wie auch vom nächsten entfernt. Serifen, die einem Sehenden die Zeilenführung erleichtern und somit einen besseren Lesefluss ermöglichen, setzen die Blinden ebenso wenig ein wie beispielsweise Ober- und Unterlängen oder Ligaturen. Auch kommen Auszeichnungen in unserem Schriftsystem so gut wie nie vor. Und … ja natürlich, bremsen Sie mich ruhig. Ich habe schließlich nicht die Absicht, nun auch noch alle möglichen und unmöglichen Hervorhebungen aufzuzählen und zu erläutern. Ich bin doch kein Lexikon, am allerwenigsten ein typographisches. Und ich wollte Sie nicht langweilen. Ganz im Gegenteil: Ich wollte Sie davon überzeugen, wie komplex und anspruchsvoll die Schwarzschrift ist. Denn sie ist weit vielfältiger als die Punktschrift.
Bevor ich Sie mit dieser vertraut mache, möchte ich aber doch noch kurz einen Begriff aus dem typographischen Lexikon herausgreifen: Das Kerning. In der Punktschrift gibt es das Kerning natürlich auch nicht, obwohl es gelegentlich durchaus hilfreich wäre. Denn ohne ein Kerning ist der Abstand zwischen zwei Zeichen manchmal genau so groß wie der zwischen zwei Worten. Und das kann einen beim Lesen durchaus ins Stocken bringen.
Natürlich gibt es auch eine Erklärung dafür, wie dieser Abstand zustande kommt. Doch das verrate ich Ihnen erst beim nächsten Mal, wenn ich Ihnen endlich erzähle, wie die Punktschrift funktioniert. Die Brailleschrift …
Moment mal, war da nicht noch etwas?
Ach ja richtig, ich schulde Ihnen noch die Lösung des Rätsels: Das Börsenblatt ist am 04.01.09 175 Jahre alt geworden und Louis Braille hätte, wenn er nicht schon längst gestorben wäre, seinen 200. Geburtstag gefeiert. Aber ob der Franzose nun noch lebt oder nicht: Gewürdigt werden sollte er an seinem Geburtstag auf jeden Fall. Denn Louis Braille war es, der die Punktschrift für Blinde erfunden hat.