Laudatio Alfred-Kerr-Preis 2009

»Auf Umwege aber kommt es an«

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Wolfgang Hörner, Verleger des Galiani Verlags, hielt die Laudatio auf den Literaturkritiker Gregor Dotzauer. Dotzauer wurde heute auf der Leipziger Buchmesse der Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik überreicht. Die Auszeichnung wird vom Börsenblatt für ein besonderes literaturkritisches Werk vergeben. Wir dokumentieren die Rede im Wortlaut:

Etwas überraschend war es schon, als Gregor Dotzauer bei mir anfragte, ob ich die Laudatio des Kerr-Preises, den er gerade verliehen bekommen habe, halten wolle.
Natürlich weiß ich, wer er ist und er, wer ich. Wir treffen uns bisweilen bei literarischen Anlässen in Berlin und haben dort durchaus auch schon länger miteinander geplaudert. Auch haben wir uns auch schon einmal, ein oder zwei Jahre ist es her, zum Mittagessen verabredet, wo ich ihn von der Güte der Neuerscheinungen meines Programmes mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu überzeugen suchte, mit möglichst spannend dargebotenen Inhaltsangaben, originellen Zitaten aus den Büchern und mit rhetorischen Mitteln, die von der capatio benevolentiae über krude Hyperbolik bis zum argumentum ad hominem reichten, unterstrichen von Ausflügen in die gestische Darstellungsweise. Soweit ich mich daran erinnern kann, hat er keins dieser Bücher je besprochen.

Gregor Dotzauer ist keiner, der den engen Kontakt zu Verlagen sucht. Er gehört weder zu den Vertretern der Kritikerzunft, die in halbwöchentlichem Abstand im Verlag auftauchen, um sich einen Kaffee servieren und die neuesten Schriftstelleranekdoten auftischen zu lassen, noch zu denen die schon Wochen vor Programmfertigstellung anrufen, um zu fragen, was es denn jetzt wohl für »Knaller« gäbe und diese – selbst wenn außer dem Namen und dem Titel des Buches noch nichts vorliegt - als mutmaßliche Sensation der nächsten Saison ankündigen.
 
Das Verhältnis zwischen Gregor Dotzauer und mir ist fernab jeder Kumpanei, eines der wohlwollenden, aber eher zart distanzierten Wertschätzung.
Wahrscheinlich versprach der nun zu Lobende sich aber gerade von dieser Konstellation etwas, und das würde – wir werden noch darauf zu sprechen kommen – durchaus zu seinem Umgang mit Büchern passen.
Fraglich ist freilich, ob es besonders klug war, nicht einen Kollegen, sondern einen Verlagsmenschen mit dieser Aufgabe zu betrauen. Denn Verleger lesen Kritiken bekanntermaßen anders als Kritiker oder Zeitungsleser und beurteilen deren Taten aus einem anderen Blickwinkel.
Wichtigstes Kriterium für die Güte einer Kritik ist für das buchwettergegerbte  Verlagschlachtroß bekanntlich nur eines: die pure Länge der Kritik. Vollkommen unabhängig  vom Inhalt gilt fest zementiert die Regel: Eine einspaltige Besprechung ist schlecht, eine zweispaltige ganz o.k., aber nur eine drei- und mehrspaltige – wenn möglich noch mit großem Bild – wirklich hervorragend. Denn erstens ist damit Konkurrenz verdrängt und zweitens für  Aufmerksamkeit gesorgt.    
In dieser Hinsicht schneidet Dotzauer so schlecht nicht ab. Der Verriß von Günter Grass' »Die Box« ist keine Zeile kürzer als der Jubel über Wolf Haas »Das Wetter vor fünfzehn Jahren« oder das wohlabgewogene kritische Lob von Durs Grünbeins »Das erste Jahr«.
Aber das ist leider auch schon so ziemlich das einzige Kriterium, bei dem Dotzauer für den – zugegebenermaßen ein wenig eingeschränkten Blick – des Verlagsmenschen halbwegs ordentlich abschneidet.
Das zweite Kritikerkritik-Kriterium ist nämlich: Ist der Mann für uns oder gegen uns? Beziehungsweise – differenzierter gefasst: Ist er für unsre Autoren oder gegen sie. Das ist bei Dotzauer nicht leicht zu sagen, streng genommen: gar nicht. Dotzauer gehört entschieden zur gefürchteten Kategorie der Unvorhersehbaren. Da finden sich Besprechung aller möglicher Verlage. Hanser, Rowohlt, HoCa, Fischer neben Kiwi, Schöffling, Antje Kunstmann, Edition Korrespondenzen, Drava oder Blumenbar, alles kunterbunt durcheinander. Beim Durchblättern des dicken Ordners seiner Kritiken kann einen gar das Gefühl beschleichen: Dem Mann ist es völlig egal, aus welchem Verlag ein Buch kommt. Festzustellen ist lediglich, dass er gewisse Autoren immer wieder bespricht, offensichtlich Werkbiographien verfolgt, aber auch in dieser Hinsicht ist auf ihn kein Verlaß. Mal lobt er ein Buch eines bestimmten Autors, dann mäkelt er am nächsten wieder. Man kann ihm mit gutem Gewissen kein Buch unaufgefordert zuschicken, man wüsste nicht, was passiert. An jedes neue Buch scheint er mit erschreckend neuer Unvoreingenommenheit heranzutreten. Er hält sich an kein Verlagsprofil, bespricht sowohl Lyrik als auch Prosa, Zeitschriften und Sachbücher, Krimis, Hohes und Niederes, Komisches und Philosophie, und zu allem Überfluß scheint er auch noch Konkurrenzprodukte, die unserer Leserschaft die Zeit stehlen und das Geld aus der Tasche ziehen, nämlich Filme und Musik zu schätzen.   
Doch zurück zur Einzelkritik. Die liest der Verlagsmann bekanntlich von hinten: Findet sich da, so die entscheidende Frage, ein Satz oder zumindest Satzteil, mit dem man das Buch bewerben kann? Ein Satz wie »eines der besten, lehrreichsten, und zugleich witzigsten und unterhaltendsten Bücher, das seit hundert Jahren zum Vorschein gekommen ist« zum Beispiel, oder zumindest ein guter Vergleich wie: »Es ist, als hätten sich Plato und Moliere zusammengetan, um dieses Werk zu schreiben.« Wird der Verlagsmensch in dieser Hinsicht enttäuscht, beginnt der Feinscan. Man muß tatsächlich den ganzen Text lesen und darin nach verwertbaren Sätzen oder zumindest bedeutsam klingenden Vokabeln fahnden: aus, »anfangs nicht schlecht, hinten teilweise brillant« kann man immerhin ein »brillant« destillieren ohne zu lügen und aus: »Was als hervorragender Roman beginnt, entgleitet im weiteren Verlauf leider komplett« ein »hervorragend« und ein »komplett«. »Brillant ... hervorragend ... komplett« wird es in diesem Fall auf der Bauchbinde zur zweiten Auflage heißen oder in der Werbung, die dorthin führen soll.
Was aber liefert Dotzauer unserer Zunft für letzte Sätze?
Die vollkommen vernichtende Antwort ist: gar keine. Denn Dotzauer schreibt nicht in letzten Sätzen. Er schreibt in Absätzen. Das hört sich dann etwa so an:
»In Josef Winkler ... ehrt die Akademie einen Schriftsteller, der wie sonst wenige aus Büchners rebellischem Geist heraus schreibt. Wo der letztjährige Preisträger Martin Mosebach eine Prosa mit abgespreiztem Finger schreibt, da wühlt er, wenn es darauf ankommt, mit beiden Händen im Dreck. Die schöne, manchmal schreckliche Notwendigkeit seiner Bücher besteht darin zu sagen: Es kommt darauf an.«
Schon gut gesagt, worauf es bei Literatur ankommt, bzw. was das innerste Wesen des Winklerschen Schreibens ist. Aber wo ist der verwertbare Satz? Es ist leider offensichtlich:   
Dotzauer schreibt nicht für die Literaturindustrie, sondern für den Leser – weshalb ich nun eher dessen den Blickwinkel einnehmen sollte. Dotzauer will nicht einmal nicht ein apodiktisches, originelles oder aufsehenerregendes Urteil fällen. Ihm geht es um mehr. Seine Schlußabsätze sind, wie die gesamten Kritiken, Gedankenbewegung. Und die aus diesen Gedankenbewegungen entwickelten bzw. darin eingesponnenen Wertungen kann man nicht in Einzelsätzen separieren. Kunstwerke, und darum handelt es sich bei guter Literatur, sind, wo sie schön sind, komplex, und man kann auch nur komplex über sie schreiben. Woraus sich diese Komplexität zusammensetzt und welche Haltungen sich in und hinter den Sätzen verbergen, das kann man allerdings erlesen. Und zu dieser schönen Kunst des denkenden Lesens lädt jede Kritik Gregor Dotzauers ein.

So sei von mir hier der Versuch gemacht, Dotzauers Denk- und Schreibbewegungen nachzuzeichnen und zu ergründen, warum man sich nach der Lektüre einer Dotzauer-Kritik auf so angenehme Weise bereichert fühlt und in gewisser Weise auch beglückt.
Was an Dotzauers Texten zuallererst auffällt, ist ihre selbstbewusste Bescheidenheit.
Das mag verwundern, stammt er doch aus der Stadt des Theaterdonners und der großen Geste, aus Bayreuth. Aber wahrscheinlich ist in Dotzauers selbstbewußter Demut gerade der stille Widerstand des selbstdenkenden Individualisten gegen das ihn umgebende Spektakel zu sehen, gegen aufgeplusterte Rhetorik, Prominentenkumpanei, Vetternwirtschaft und Selbstinszenierungen jeder Art.  
Dotzauer ist einer der raren aber wahren Kritiker, die selbst ganz hinter den Gegenstand ihrer Betrachtung zurücktreten. Er ist kein Regelpapst; nicht er legt Maßstäbe an die Literatur an und misst sie daran, die Texte selbst tun es: »Es gibt, Gott sei Dank, keine DIN-Norm für Literatur. Jeder Text entwirft seine eigenen Maßstäbe« heißt es einmal bei ihm.
Nie sind die Bücher Mittel zum Zwecke, die eigene Brillanz herauszukehren und zu glänzen. Triumph und Häme gegenüber einem Buch scheint  er sowenig zu kennen wie die Dummheit maßloser Bewunderung. Selbst den verehrtesten Schriftstellern wie etwa Richard Ford, Inger Christensen, J. M . Cotzee oder David Forster Wallace zollt er den Respekt der Offenlegung seiner Schwächen. Symptomatisch etwa eine Stelle zu Durs Grünbeins »Berliner Aufzeichnungen«. Dotzauer nennt sie „das gedankenreichste, thematisch vielfältigste und sprachlich virtuoseste deutsche Buch, das man in diesem Herbst lesen kann,« – freilich mit der Einschränkung: »wenn seine Zwiespältigkeit solche Anpreisungen vertragen würde. Manches ist nur besseres Feuilleton, aber auf jede in Granit gehauene Binse kommt eine überraschende Erkenntnis.« Oder jüngst zu Daniel Kehlmann: »Ruhm will ein Buch ohne Mitte sein: ein Kaleidoskop, das man in jeder beliebigen Richtung lesen kann. Es hat nur den Schönheitsfehler, dass es doch eine interne Dramaturgie mit zuweilen überdeutlichem Verweischarakter besitzt, wie die zweite Lektüre enthüllt. Wie man dieses Kaleidoskop aber dreht und wendet: Mit »Ruhm« hat sich Kehlmann noch weiter in die Mitte der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben – raffiniert genug, um erfahrene Leser für sich einzunehmen, und eingängig genug, um weniger Erfahrene in Bann zu schlagen. Niemand soll so tun, als hätten wir einen solchen Schriftsteller nicht lange vermisst.«
Einfache Wahrheiten gibt es auch hier nicht – in jedem der beiden Beispiele balanciert Dotzauer bis zum Schlußpunkt virtuos auf der Kippe zwischen positiver und negativer Wertung – und auf die kommt es aber letztendlich auch nicht an. Die Schwebe sorgt nur für den Suspense (um mich eines Ausdrucks aus dem Krimi zu bedienen) – wichtig ist der Prozeß der Erkenntnis, der Erhellung, der dabei zurückgelegt wird. Dotzauer versteht sich denn auch weniger als Urteilsfäller denn als argumentativer Erzähler in Sachen Literatur. Kein Wunder, dass die Kritiken selbst durchaus auch literarische Elemente beinhalten: »Ein Nacht- und Traumstück, dessen Szenen in kurzen Absätzen aufflackern wie unter schlafschweren, sandverklebten Augen« heißt es etwa über Handkes Kali.
Dotzauers Respekt vor dem Text lässt sich in der Sorgfalt sehen, mit der er Bücher liest und überdenkt, mehrfach oder in Originalsprache und Übersetzung, wie er Strukturen erforscht, dem Bau der Sätze nachfühlt (aus dem er dann schlüssig eine Haltung zum Leben und zur Literatur abzulesen vermag), wie er sie abklopft und dabei prüft, wie dicht ein Text gefügt, wie sorgfältig er motivisch verarbeitet, wie gut er metaphorisch verfugt ist. Dies alles ruhig, konzentriert, beharrlich, und mit der Glut der stillen Leidenschaft, die auch noch den reflexivsten seiner Texte durchzieht. Er schmeckt den literarischen Satz-Gedanken-Emotionskomplexen nach und manchmal, so stelle ich mir vor, prüft er – wie die Rubinjäger im Pamir - ein besonderes Juwel, indem er es leicht mit der Zungenspitze berührt und den  Brechungen des Lichts auf seiner Oberfläche nachsinnt. Je dunkler der Rubin, so weiß der Edelsteinsammler, desto kostbarer ist er. Und je dunkler ein Text ist und dennoch leuchtet, das weiß der Benjaminkenner Dotzauer (und wir haben es anhand seiner Einlassung zu dem »in Dreck wühlenden« Josef  Winkler gehört) desto schöner ist auch er. Erst die Unreinheit gibt der Kunst die Perfektion.
Schreibt Dotzauer nachher seine Kritiken, so versucht er weniger, die Bücher nachzuerzählen, als sie in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu würdigen. Und da im Kleinen meist das große liegt, schält Dotzauer dieses gern aus der Deatilanalyse von Vokabular und Satzbau heraus: Das ganze Programm des von ihm geliebten ungarischen Autoren Lázló Krazsnahorkai legt er in einer Analyse von dessen Satzbau beispielsweise folgendermaßen offen:
„Alles ereignet sich in den labyrinthischen, Nebensatz um Nebensatz aufeinander schichtenden Sprachschluchten die seit jeher seinen Stil prägen: unerschütterlich geschlossene Satzreihen, die, wie es einmal über die Klostermauern heißt, nicht nur der Kennzeichnung eines riesigen Grundstücks dienen, sondern auch sagen wollen: ‚Das ist keine Umzäunung, sondern das innere Maß von etwas, dessen Erscheinungsform als Mauer den Ankömmling bloß warnen soll: dass er bald andere Maßeinheiten brauchen wird als solche, die er gewöhnt ist, und dass andere Proportionen als solche, die bisher sein Leben einschlossen, bestimmend sein werden.‘
Hinter dieser Mauer aber erschließt sich, warum mit solch ‚unendlich komplexen Kräften das unendlich Einfache‘ ausgedrückt wird: weil jeder Satz das Unaussprechliche eben nur umkreisen kann.“
Auf den Umweg also kommt es an. Vieles ließe sich noch ausführen, man könnte Dutzende von Dotzauers wunderbaren, die Sache auf den Kern bringenden Beschreibungen anführen, für die seine Charakterisierung der Wolf Haasschen Sprache als „alpenländisch hingerummstes Buckelpistendeutsch, dessen Zärtlichkeit nur Leuten, die nie das Licht des Südens getroffen hat, hottentottenhaft vorkommen kann“ beispielhaft stehen soll. Auf seine Vielfalt, sein Interesse an allen möglichen Formen der Literatur (vom gut geschriebenen Philosophischen Buch bis zur Lautpoesie), sein Gespür für das den Wesenskern treffende Detail, seine Fähigkeit, zwar fordernd, aber dennoch immer luzide zu schreiben und  das, was man über einen Text immer gefühlt, aber nie auf den Punkt bringen konnte, in einem Satz zusammenzufassen; Dotzauers Liebe zur Präzision und seine Abneigung gegen Schwammigkeit, sein Credo, „dass Voraussetzung eines Schreibens, das nicht auf Leserbestätigung, sondern auf Erkundung unbekannten Terrains aus ist, ein hohes Maß an Wahrnehmungsschärfe“ sei und zudem „ein durch Lektüre entstandenes Bewusstsein für Tradition“ erfordere. Viel zu sagen wäre über das unorthodoxe Dotzauersche  Traditionsbewußtsein nebst seiner Belesenheit, bei der es sich verhält wie bei Wolf Haas: „das raffinierte ist seine Belesenheit, die seine Bücher aber nie beschwert – und dass er sich aus Hoch- und Popkultur leiht, was ihm gefällt.“  
Doch diese Rede soll nun endlich ein Ende haben, sonst geht es mir wie dem spanischen Grafen Cantillana, dem Gesandter am Hof Ludwigs XV. von Frankreich und Vorgesetzten des Schriftstellers Ferdinando Galiani. Galiani gab ihm eine politische Eingabe mit der Bemerkung zurück, sie tauge nichts, obwohl er sie nur flüchtig angeschaut hatte. Cantillana darauf ungehalten: „Aber sie haben Sie doch gar nicht gelesen“. Darauf Galiani: „Exzellenz: erlauben Sie mir zu bemerken, daß eine politische Rede das Gegenteil von Ihrer Nase ist; sie ist nur gut, wenn sie kurz ist.“
Diese hier war nun schon eh nicht ganz kurz und so sei nur noch abschließend Gregor Dotzauer zu seiner verdienten Auszeichnung gratuliert – und der Jury dazu, nicht einen der lauteren Kritiker ausgewählt zu haben, sondern den, über den man das große Lob aussprechen kann, er sei vielleicht der zurückhaltendste Fanatiker in Sachen Literatur in Deutschland.