Meinung

Literarischer Trend: Der will zu dir

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Warum Schriftsteller plötzlich ihre Tierliebe entdecken. Rainer Moritz über einen neuen Boom.

Mit Haustieren tue ich mich schwer. Mein Bruder besaß, vermutlich als Adenauer Kanzler war, eine Schildkröte, die auf dem Balkon in einer Kiste lebte, wenig tat und plötzlich verendete. Ich hatte, vermutlich als Willy Brandt das Land voranbrachte, Wellensittich Hansi, der regelmäßig auf die Gardinenstange entwischte, wenig sang und plötzlich verendete.
Lieber waren mir die Tiere im Fernsehen (Lassie! Fury! Flipper!) und in der Weltliteratur, wo es die ja zuhauf gibt, bei Herman Melville, Franz Kafka oder Theodor Fontane, Rollo, Sie wissen schon, Effi Briests Neufundländer. In der Gegenwartsliteratur war in den letzten Jahrzehnten kein besonderer Tierboom auszumachen, von Juli Zehs Hund mal abgesehen. Doch jetzt wendet sich das Blatt, was wahrscheinlich mit unserer gefühlsarmen Zeit zu tun hat, mit unserer Ellenbogengesellschaft, die von Peter Alexanders Aufforderung »Hier ist ein Mensch, / der will zu dir. / Du hast ein Haus, / öffne die Tür« nichts wissen will.
Nun mit einem Mal Tiere, wohin das Auge blickt. In Matthias Gatzas komplexem Debütroman »Schatten der Tiere« etwa. Dessen Hauptfigur, ein Ex-Verleger, verdient sich seine Brötchen als Tierjournalist und verlebt viele anregende Stunden im Berliner Zoo. Der scheint es Autoren ohnehin angetan zu haben, denn auch Dirk Kurbjuweits Politiker­roman »Nichts als die Wahrheit« spielt auf dem beliebten Gelände. Ein Privatdetektiv, der von Beschattungen allein nicht leben kann, versucht Taschendiebstähle vor Eisbärgehegen (Knut!) oder Raubtierkäfigen (Rilke!) zu vereiteln. Und Herrn Holm, den tragikomischen Helden in Matthias Keidtels »Das Leben geht weiter«, drängt es zu den Berliner Elefanten, die von den »Moden der Evolution« unangestatet seien und dem glücklosen Holm deshalb so gefallen.
Dass auch Ostberliner Tierparks etwas zu bieten haben, bewies schon 2003 der jetzt als Philosophie-Bestsellerautor zu Ruhm gekommene Richard David Precht in seinem fälschlicherweise übersehenen Roman »Die Kosmonauten«. Eine der beiden Haupt­figuren arbeitet als Hilfstierpfleger im Osten der Stadt; es fallen vielschichtige Sätze wie: »Fahren wir zu dir, oder gehen wir in den Zoo?«
Natürlich wollen und dürfen wir Altmeister Wilhelm Genazino nicht vergessen, in dessen Œuvre Tiere seit jeher eine bedeutsame Rolle spielen. In »Mittelmäßiges Heimweh« hieß es: »Das ist das Beeindruckende an Tieren: Sie streifen empörungsfrei durch die Welt«, und im aktuellen Roman »Das Glück in glücksfernen Zeiten« erleben wir den Heidegger-Spezialisten Warlich, wie er Mädchen beim Kämmen von Pudeln zusieht und über die »Unbesorgtheit der Tiere« nachdenkt.
Gerade ihm, dem überempfindlichen Philosophen, der in einer Wäscherei arbeitet, tut es gut, die Erregungen des Alltags beiseitezuschieben und den beruhigenden Anblick unbesorgt wirkender Tiere zu genießen. Manchmal freilich landen diese schnöde auf seinem Teller, als Kalbsrückenscheiben, die er nach einem Problemgespräch mit Traudel, seiner Gefährtin mit Kinderwunsch, zu sich nimmt. Problemgespräche mit Möwen, Dackeln oder Hasen muss man selten führen. Auch das eine Erklärung für die Beliebtheit von Tiermotiven in der Gegenwarts­literatur.

Welche Erklärung haben Sie für die Häufung von Tieren in der Literatur?