Zugegeben, der Titel ist übertrieben provokant und nicht im Dienste der Wissenschaftlichkeit dieses Weblogs. Aber sie umschreibt einen Eindruck, der sich dieser Tage aufdrängt: Selbsternannte Humanisten, Professoren und eine Justizministerin schreiten zu Felde gegen einen bösen amerikanischen Konzern, der sie in seinem Leitspruch – "don't be evil" – noch verhöhnt. Gleichzeitig verurteilt ein schwedisches Gericht die Betreiber einer Filesharing-Infrastruktur wegen Beihilfe zur Umgehung von Urheberrechten. Der Lobbyverein der deutschen Buchbranche wettert in jeder neuen Ausgabe des „Börsenblatts“ gegen die kulturzersetzende Wirkung des Internet auf die soziale Wissensverwaltung. Damit setzt er Kultur gleich mit den Herrschaftsstrukturen unseres Verlags- und Musikindustriebetriebs und einem kaum zweihundert Jahre alten Gesetz zu dessen Sicherung.
Dabei changieren die Meinungen zwischen den verschiedenen Extremen: Technophobie, Panikmache vor dem Ende des Abendlands, berechtigte Warnung vor der Monopolisierung des Wissens und der Kunst in der Hand eines Konzerns. Und überall begegnet uns die Angst etablierter Autoren und Verlage vor der bislang klein gehaltenen künstlerischen und wissenschaftlichen Konkurrenz. Letztlich also geht es um Herrschaft, und die ist in unseren Tagen eine Sache vor allem des Geldes. Das erklärt auch die mangelnde Bereitschaft, zu differenzieren: So richtet sich der „Heidelberger Appell“ ja nicht etwa nur gegen Googles geistigen Monopolanspruch, sondern auch gegen generelle Open-Access-Ideen. Das übersieht, dass das Internet (und insbesondere das Web) eine Chance für das freie Publizieren darstellt – allerdings ganz und gar nicht im Sinne der Herrschenden des (Buch-)Medienbetriebs. Denn die verlegerische Selektion der Inhalte wird ausgehebelt. Dass das zu durchaus brauchbaren Ergebnissen führen kann, beweist die vielgeschmähte, doch qualitativ überzeugende Wikipedia.
Es gibt eine Zukunft für das Buch
Haben wir es also mit einem Herrschaftskampf zwischen den alten Eliten und ihrer neuen Konkurrenz zu tun – und nicht etwa mit einem Kulturkampf um die Werte des Abendlandes? Auf jeden Fall wird der kulturelle Schock durch die Einführung elektronischer Kommunikationsmedien vermutlich ähnliche Auswirkungen haben wie jener bei Einführung des Buchdrucks. Er wird unsere Gesellschaften umwälzen, und zwar schneller und tiefgreifender als der Buchdruck. Die alten Institutionen tragen nicht mehr, das beste Beispiel sind die Entlohnungsformen von Künstlern und Wissenschaftlern. Die Technik macht ihnen (und ihren Verlegern) einen Strich durch die Rechnung. Der konservative Generalfehler ist aber, zu glauben, dies ließe sich aufhalten. Stattdessen sollte man sich lieber Gedanken über neue Entlohnungsverfahren machen. Den Verlagen als Wissensmanagern kann hierbei durchaus ein Platz zukommen. Dies wird aber immer unwahrscheinlicher, je mehr man die stattfindenden Prozesse ausblendet oder Symbolpolitik und Appelle gegen sie einsetzt. Denn dann überlässt man das Feld wirklich den Branchenriesen wie Google und Amazon. Man sorgt für einen Abtausch der alten (nationalstaatlich-kleinwirtschaftlichen) Herrschenden im Wissens- und Kulturbetrieb durch neue (supranational-industrielle) Machthaber. Es wird abzuwarten sein, ob die alten Strukturen der Nationalstaaten stark genug sind, diesen Unternehmen Alternativen beizustellen. Sinnvolle Entlohnungssysteme für Wissenschaft und Kunst könnten in den bekannten Modellen der Kulturflatrate oder bei Verwertungsgemeinschaften liegen: Hohe Profite für wenige (Bestseller) liefern keine gesellschaftliche Motivation zur Kreativität. Auch geistige Arbeit muss in Ansätzen eine realistische Bezahlung finden.
Das Buch wird bei alledem nicht verschwinden, egal, wer es nun herausgibt. Wir können uns auf lange Sicht zwar darauf einstellen, dass der klassische Buchmarkt in der Medienkonkurrenz schrumpft, aber sowohl für das kulturelle und materielle Artefakt wie auch für das Handelsgut Buch wird es weiterhin Absatzchancen geben. Wissenschaft und Kunst werden (in diesem und in anderen Medien) ebenfalls weiter existieren. Open Access und die social media bieten hier sogar ganz neue Chancen der Wissenschaftskommunikation, gebären neue, interaktive Kunstformen und demokratisieren den Betrieb. Die leichte und allzeitige Verfügbarkeit von Wissen schätzen beide Seiten – so lange sie frei bleibt. Open Access ist keine Keule in der Hand Googles, sondern in der seiner Gegner.
An wirksames Urheberrecht zu glauben, zeugt von technischem Unverständnis
Ob der freie Zugang zu heute urheberrechtlich geschützten Werken tatsächlich künstlerische und wissenschaftliche Kreativität eindämmt, muss (und wird) sich erst noch herausstellen. Quantitativ wird sicherlich das Gegenteil der Fall werden: Mehr Menschen partizipieren an ihrer Produktion und ihrem Konsum. Die qualitative Seite ist schwer zu beurteilen, da auch der Diskurs bestimmt, was Qualität ist (und sich schon die alten Griechen über ihren Verfall aufregten). Es ist wahr, durch Raubdruck geriet der Geheimrat Goethe unter Druck; aber Millionen von Autoren, die sich nicht wie Goethe in den Herrschaftsstrukturen hochdienen konnten, mussten im letzten Jahrhundert denselben Druck aushalten. Auch und gerade unter der Ägide des (durchsetzbaren und durchgesetzten) Urheberrechts. Die Durchsetzbarkeit ist heute nicht mehr gewährleistet: Jede andere Meinung zeugt von obrigkeitsstaatlichem Totalitarismus oder technischem Unverständnis.
Der wirtschaftliche Kampf wird ausgetragen zwischen den alten wissenschaftlichen und Kulturbetriebs-Eliten in den Verlagen und den neuen Allround-Eliten der Industrie. Gegen beide stehen die Interessen der Autoren und Künstler – und die des Publikums. Worum es in der Debatte um den Heidelberger Appell geht, sind neue Monopolrechte für alte Verlage gegen die elektronische Konkurrenz. Als Gesellschaft werden wir lernen müssen, diese "Konkurrenz" als Ergänzung zu verstehen. Hier liegen Chancen für den Verlagsbuchhandel, wenn er bereit ist, sich strukturell den neuen Gegebenheiten anzupassen. Wenn er auf rechtliche und technische Repression setzt, wird er auf lange Sicht nur verlieren.