Ich versuchte heut, mir eine Welt ohne Bücher vorzustellen. Die Wände meiner Zimmer wären leer, vielleicht hingen Bilder daran oder LCD-Schirme mit wechselnden Gemäldeabbildungen aus den Beständen der großen Museen, in den Vitrinen stünden nur noch Antiquitäten oder vielleicht eher Repliken (siehe unten) – und auf dem Lesepult läge das faltbare, papierdünne Lesegerät für alles: Zeitungen, Zeitschriften und eben auch Bücher. Es würde auf Sprache reagieren, also "Shakespeare – Sonnets – english - 100" würde Sonett 100 auf das Lesegerät zaubern, die Schrift paßte sich von selbst und automatisch meinen Gewohnheiten, meinen Augen und der Helligkeit im Raum an.
Und ich läse dann: "Where art thou inspiring person that thou forget'st so long", und so weiter bis zur letzten Zeile "So thou prevent'st his rake and crooked plane". Irgendwie geriete ich ins Schwanken und befragte meine Erinnerung, dies schwankende Ding, ob die erste Zeile wirklich so arg das Versmaß überschritte, und Harke wie Hobel paßten gleichfalls nicht in mein Bild vom größten Dichter (zusammen mit Dante, selbstverständlich).
Irgendwann fiele es mit wieder ein: die Texte sind selbstverständlich gereinigt, "ad usum Delphini", was soviel meint, auch der Jüngste kann und darf sie lesen, es sind keine anstößigen Stellen mehr darin, alle geschlechtsspezifischen Begriffe sind in der großen, bedeutenden Tradition des "Gender Mainstreaming" überarbeitet, so daß eine Muse nimmer nur weiblich sein mag, sondern jede Person mag inspirieren – und alle Wörter, die Bezug nehmen auf Waffen, gleich ob Schußwaffen, Stechwaffen, Messer, Spielzeugpistolen, sind selbstverständlich durch friedvolle, gesellschaftlich positive ersetzt.
Dies erledigt die Kontrollkommission für das Weltschrifttum der UNESCO jedes Vierteljahr, indem alle Texte, die irgendwo auf der Welt irgendeinen Anstoß erregten, ihr gemeldet, von ihr durchgesehen und revidiert werden. Morgen wird sie wieder tagen, ich bin gespannt, wie die beiden Zeilen danach lauten werden, denn so ein Hobel, das ist schon ein erschröckliches Teil, es begradigt und glättet ohne Rücksicht auf die Eigenheiten.
PS. Warum Repliken: Die UNESCO betrachtet es als für das kulturelle Erbe der Welt zu gefährlich, Stücke, die älter als zehn Jahre sind, in Privatbesitz zu lagern. Sie befinden sich nun allesamt und wohlsortiert nach Epochen und Kontinenten in einem großen klimatisierten Speicher und dienen einzig als Vorlage der Repliken, die sich leicht, der Mode entsprechend, austauschen lassen und dem heimischen Lebenskreis ständig neue Attraktionen bieten.
Rainer Friedrich Meyer