Interview

Feridun Zaimoglu: "Ich verabscheue die Nüchternheit"

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Ein Gespäch mit den Schriftsteller Feridun Zaimolgu über die Herzhitze der deutschen Romantik, die Seelen empfindsamer junger Männer und seinen neuen Roman "Hinterland". Einen Überblick über alle weiteren wichtigen literarischen Neuerscheinungen finden Sie im morgen erscheinenden BÖRSENBLATT.
Herr Zaimoglu, "Hinterland" ist Ihre ungefähr 15. Buchveröffentlichung in knapp 14 Jahren – etliche Theaterstücke, Drehbücher und Zeitungsbeiträge gar nicht mitgezählt. Ihre Produktivität scheint unerschöpflich.
Feridun Zaimoglu: Wissen Sie, die Theaterstücke sind in Hotelzimmern und während endloser Zugfahrten entstanden, geschrieben mit der Hand. Und ansonsten? Ich gehöre zu denen, die sich vergiften, wenn sie einmal nichts machen oder für einen halben Tag ausfallen. Ich merke dann förmlich, wie der Giftpegel steigt. Und außerdem liebe ich diese Arbeit: Es hat ja immer etwas damit zu tun, sich Geschichten auszudenken, die richtigen Worte zu finden und sie dann aufzuschreiben. Zuweilen werde ich von meinem Lektor etwas zur Ordnung gerufen beziehungsweise angemahnt, doch zur Abwechslung mal zwei Monate nichts zu tun. Das kann ich mir aber nicht vorstellen. Ein Tag am Strand, und ich frage mich, ob das Leben überhaupt einen Sinn hat.

Ihr neuer Roman „Hinterland“ spielt an den verschiedensten Orten, in Berlin, Prag, Budapest, Istanbul und an einigen mehr – und doch hat man den Eindruck, diese Städte seien märchenhafte Kulissen, Orte jenseits des Wahrnehmbaren, Hinterland im wahrsten Sinne des Wortes. Welche Bedeutung hat der Titel?
Feridun Zaimoglu: Der Titel weist auf Schauplätze hin, in die man sich hineinbegeben muss. Es sind keine Schauplätze, die man begeht, keine Attraktionen. Es sind zwar reale Orte, aber die Menschen verstricken sich dort in seltsame Geschichten und werden von ihnen fortgerissen. Hinterland ist ja auch ein militärischer Begriff. Es gibt die Front, da wird heiß gekämpft. Und der große Mythos ist, dass im Hinterland der Front alles befriedet ist. Es ging mir darum zu zeigen, dass das Hinterland im Grunde genommen die Front der Zivilisten ist, und die kämpfen natürlich mit anderen Mitteln. Aber es ist kein Kampf um Nüchternheit. Ich verabscheue die Nüchternheit.

Es ist ein Kampf um Leidenschaft und Liebe?
Feridun Zaimoglu: Um die Liebe und darum, dass das Alte wieder aufbricht: Männer und Frauen, gefangen in Gespinsten, verwandeln sich und müssen einander begegnen, obwohl sie am liebsten woanders sein wollen. Sie kommen irgendwohin mit dem festen Ziel und sogar dem Auftrag, einen verschollen Geglaubten, einen wirklich Verschwundenen ausfindig zu machen. Aber sie werden mitgerissen von den links und rechts am Wegesrand liegenden Geschichten. Es geht also nicht um eine gerade Linie. Vielleicht ist das etwas, das ich in meinem wirklichen Leben auch immer wieder erfahre: Dass es mir nicht gelingt, geradeaus zu schreiten. Ich werde immer mitgerissen. Wo ich schließlich angelange, ist es im Übrigen meist besser als dort, wo ich hinwollte.

Wo sind Sie mit diesem Buch angekommen?

Feridun Zaimoglu: Ich habe am Anfang gegenüber meinem Lektor auf eine Inhaltsangabe verzichtet – das ist bei diesem Buch auch besonders schwer. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass „Hinterland“ den Träumern und Verträumten, den Sonderbaren und Sonderlingen gewidmet ist. Es ist, glaube ich, das poetischste Buch, das ich geschrieben habe.

In „Hinterland“ tauchen sehr viele Figuren auf, unterschiedliche Ich-Erzähler, oftmals wird man lange im Unklaren darüber gelassen, von wem die Rede ist. Das erzeugt eine flirrende, irritierende Stimmung. Die Sprache folgt einer Logik des Traums.

Feridun Zaimoglu: Es gibt das, was in der Wirklichkeit tatsächlich existiert, nämlich die Vielstimmigkeit. Ich war eingestimmt auf viele Träume und auf viele Träumer. Sowohl der Ton als auch die Selbstermächtigung durch die Ich-Perspektive sind intendiert – mit dem Ziel, die ganz große Geschichte aus vielen kleinen Geschichten zu erzählen.

Wo liegt der magnetische Kern dieser vielen kleinen Geschichten, um was gruppieren sie sich?

Feridun Zaimoglu: Es ist ein Buch der Sehnsüchte. Im Anfang, so scheint es, geht es um die Liebe zwischen Ferda und Aneschka, und doch sehen wir bald, dass dies nur eine Geschichte von vielen ist. Eigentlich geht es um Erlösung, um Sehnsucht, um Selbstaufgabe. Mich interessiert, was passiert, wenn man vom eigenen Willen wegstrebt, wenn man die Selbstbehauptung aufgibt. Es geht aber auch um ganz seltsame Phänomene, die diese Menschen glauben zu sehen.

Es wimmelt im Wald von Zwergen, Erdkerlchen und Närrchen.
Feridun Zaimoglu: Ja, hier tauchen dann die mythischen Gestalten oder die Traumgestalten auf. Sind die Zwerge Produkte der Fantasie der Dame Vlasta, oder gibt es sie wirklich? Sind die in Istanbul brennend um einen Turm herumfliegenden Hummeln, wie behauptet wird, die Seelen empfindsamer junger Männer? Oder ist das nur ein Wunschtraum von vier alten Männern, die im Winter ihres Lebens erlöst werden wollen? Was sehe ich, was ist wirklich? Wenn Sie mich nach dem Kern fragen: In diesem Buch gibt es keine Aussage, keine Botschaft, es geht hier um die Sehnsüchte von Menschen, die zueinander finden und wieder auseinandergehen. Ferda und Aneschka sind dabei wie Fermente, die die Umgebung zum Gären bringen.

Sie scheinen sich als Autor mit jedem Buch neu zu erfinden und andere Formen, eine andere Sprache auszuprobieren.
Feridun Zaimoglu: Es ist ja wunderbar gelaufen in meinem Leben, weil ich schon vor ein paar Jahren gemerkt habe, dass ich mich aufgeben muss, um schreiben zu können. Es ist ein fortschreitender Prozess der Selbstaufgabe und des festen Willens, anständige Geschichten aufzuschreiben. Im Anfang stand der Bezug zu den Realitäten, dann hatte ich große Lust, mir Geschichten auszudenken. Mit dem Buch „Leyla“ wollte ich auch mit meinem eigenen Geschlecht brechen. Und nun zieht es mich weiter. Eigentlich will ich nur Geschichten erzählen, immer mehr ins Detail gehen und nicht mehr nur etwas andeuten. Oder dort nur andeuten, wo ich glaube, dass die Technik der Unschärfe der Geschichte dient. Wie schon bei „Liebesbrand“ wollte ich mich auch mit dem neuen Buch auf die deutsche Romantik beziehen und diesen Bezug zugleich fortschreiben, weil ich so sehnsüchtig war, weil ich fort wollte, vom Fleck kommen wollte. Ich langweile mich halt sehr schnell. Und möchte kein Wiederholungstäter sein.

Was fasziniert Sie an der deutschen Romantik?
Feridun Zaimoglu: Der Wille, sich selbst zum Verstummen zu bringen. Ein anderer Geist soll in den eigenen Körper einziehen. Eigentlich ist die große Anrufung der Natur, die Anrufung der höheren Macht, die Anrufung des höheren Gefühls paradox, weil man von seiner eigenen Mickrigkeit weiß. Aber gleichzeitig wird man hinfortgetragen. Romantik, das bedeutet, dass man aufhört, Autor zu sein, und anfängt, Geschichten zu erzählen. Ich mag die Herzhitze an der deutschen Romantik. Man kann kein kaltes Buch schreiben. Und ich mag auch die Gefahren. Ich bin sehr gespannt, wie die Leser auf „Hinterland“ reagieren werden. Es wird der eine oder andere sich vielleicht melden und sagen: Der spinnt, wir sollen das spinnerte Buch lesen, und er will uns einfangen, er will doch nur, dass wir uns in seine Träume begeben, die manchmal auch dunkle Träume sind. Dann kann ich nur sagen: Ja, stimmt. Rein in den Traum, auf dass die Wirklichkeit glänze. Was mir gefällt: Ich bin das Stiefkind der Aufklärung. Ich mag sehr die Vorstellung, dass wir, die wir in der Moderne oder der Post-Moderne oder der Prä-Post-Moderne leben, überrumpelt werden von den alten Affekten und Effekten. Mir gefällt die Idee, dass in die Jetztzeit plötzlich das Alte hineinragt. Ich mag die Romantik als Infektion des modernen Menschen. Ich mag die große Unsicherheit. Ich mag die Instabilität. Infektion und Instabilität sind Zeichen der Romantik und auch Mittel, um uns Menschen in der Moderne zu überrumpeln. Und dass wir dann hinfallen, hat sein Gutes.

Man muss die große Unsicherheit aushalten können.

Feridun Zaimoglu: Man kann sie kaum aushalten. Ich hab auch gut reden, weil ich fliehen kann ins Schreiben. Aber ich bleibe ja auch, ob Stiefkind oder uneheliches Kind der Aufklärung, ein Kind der Aufklärung und bin immer wieder überrumpelt. Aber schön ist dieses Unbehagen. Und schön ist es auch, verrückt zu werden an diesem Unbehagen – und es aufzuschreiben.