Alfred-Döblin-Preis

Trends und Tendenzen von morgen oder übermorgen

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Üblicherweise gibt es Literaturpreise für veröffentlichte, von einer Jury als gelungen und bedeutsam empfundene Werke. Das Besondere am Alfred-Döblin-Preis besteht darin, dass er eine kräftigende Finanzspritze für unterwegs bedeutet. Hier werden unveröffentlichte Manuskripte oder Kostproben aus entstehenden Werken ausgezeichnet – mindestens 50 Seiten sind einzureichen. Mitunter werden Verleger so erst aufmerksam auf ein wichtiges Projekt.
Am vergangenen Wochenende haben im Berliner LCB die sechs diesjährigen Finalisten – von der Jury ausgewählt aus 600 Einsendungen – ihre Werke vorgestellt. Man war nicht nur neugierig auf den Sieger, sondern auch auf die Trends und Tendenzen von morgen oder übermorgen, die sich womöglich in den Texten abzeichnen. Nachdem vier Autoren gelesen hatten, war zu erkennen, was da auf uns zukommt: Familiengeschichten, wieder einmal Familiengeschichten. Familie ist weiterhin die bevorzugte dramaturgische Leitplanke für die Erzähler, und es sind offenbar vor allem die Männer, die auf dieser Strecke zu seelischen Blechschäden kommen, sofern sie ihre Existenz nicht komplett zu Schrott fahren.

So lag der Akzent ganz auf problematischen Vätern. Einen verhassten und versoffenen Vater schilderte Volker H. Altwasser, einen sehnsüchtig vermissten Vater das zwischen Poesie und Edelkitsch changierende Romankapitel von Zsuzsa Bánk. Innenansichten eines Trennungsvaters auf Urlaub mit der zwölfjährigen Tochter bot Thomas Hettches Syltnovelle. Auch einige alte Schulfreunde des Ich-Erzählers sind hier mit von der Partie, und sie geben offenbar beneidenswert harmonische Paare ab – eine konfliktträchtige Konstellation. Vor allem aber geht es in Hettches Text um den hartnäckigen Kampf eines Vaters um die Zuneigung seines Kindes.  

Der Stifter des im Zweijahresrhythmus vergebenen Döblin-Preises, selbst vielfacher Vater, war anwesend in der ersten Reihe – am Pfeifenaroma war es zu vernehmen. Wie Helmut Schmidt hat Günter Grass die mit allgemeinem Wohlwollen goutierte Ausnahmeraucherlaubnis. An einigen der Beiträge vermisste er formale Risikofreude. Vor allem die Jüngste in der Finalistenrunde, die 1977 geborene Harriet Köhler, musste sich für ihren Text – natürlich der Ausschnitt aus einem Familienroman – vom Nobelpreisträger den Vorwurf des „Schreibens auf Nummer sicher“ gefallen lassen. Sie nahm es mit Schmollmund.

Mehr Freude hatte Grass an dem Text von Michael Roes. Dessen Romanmanuskript mit dem schönen Titel „Die fünf Farben schwarz“ lag bei der Lesung bereits in imponierender Ziegelsteindicke vor dem Autor. Hier wird das Familiendrama ins Krimihafte zugespitzt. Bei der Hauptfigur, einem Rhetorikprofessor aus Leipzig, der sich als „Dekorateur der Sprache“ versteht, trifft ein bei lebendigem Leib abgeschnittener Finger ein. Es ist der seines entführten Sohnes, der nie wieder auftaucht. Die Familie ist zerstört, aber elf Jahre später tritt an die Stelle der Vater-Sohn-Beziehung ein intensives Lehrer-Schüler-Verhältnis mit einem Studenten aus China. Der Professor folgt ihm in den fernen Osten, und der größte Teil des essayistisch überwucherten Romans besteht in der Erkundung der chinesischen Anderswelt. Philosophie des Todes, sublime Kunst der Kalligraphie, Schreckensgeschichte des Kommunismus, Entgrenzung und Auflösung des westlichen Ich – das sind die Themen und Motive des ambitionierten Werks, einer Reise auf die Rückseite der Vernunft, in deren dunkle Winkel die herkömmliche Psychologie nicht hineinleuchtet. „Nichts sagt weniger über unsere Welt als realistisches Schreiben“, meinte Roes pointiert.

So weit wollte die beeindruckte Jury, bestehend aus Cecilia Dreymüller, Christian Döring und Frank Heibert, ihm dann wohl doch nicht folgen und zeichnete mit dem Preis stattdessen den Debütroman des fünfundfünzigjährigen Eugen Ruge aus, Arbeitstitel: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Ruge ist der Sohn eines kommunistischen Emigranten, der 1941 für 15 Jahre in sowjetische Verbannung kam und anschließend trotzdem in die DDR ging – und sein Roman entwickelt in verdichtetem realistischen Erzählen einen großen historischen Bogen: die Geschichte des deutschen Kommunismus zwischen 1950 und 2000. Das Kapitel, das Ruge im LCB vortrug, schilderte die Rückkehr eines Emigrantenpaares aus Mexiko nach Ost-Berlin im Jahr 1952. Die „Ärzteverschwörung“ in der Sowjetunion, der tschechoslowakische Schauprozess gegen Rudolf Slansky und der als Antizionismus getarnte Antisemitismus bilden den düsteren Hintergrund des Geschehens. Ruge, ein sorgfältiger, an Drama und Hörspiel geschulter Autor, hat knapp die Hälfte seines Buches geschrieben – man wird also noch eine Weile auf das Werk warten müssen.

Nach der Bekanntgabe des Preisträgers hielt Grass ein kurzes Plädoyer für seinen „Lehrer“ Alfred Döblin, der nach 1945 in Deutschland nicht mehr wirklich Fuß fassen konnte und heute mit den meisten seiner Werke kaum noch präsent sei. Zweck des Döblin-Preises ist es nicht zuletzt, den immer noch zu wenig entdeckten oder wiederentdeckten Autor in Erinnerung zu rufen. Und so stellte Grass an Eugen Ruge und die künftigen Preisträger eine Schulaufgabe: Fortan sollen sie in einem öffentlichen Vortrag Auskunft geben über ihr Verhältnis zu Döblin.