Von der Bücherwand

Welche Zukunft hat der Handel mit antiquarischen Büchern?

22. Juni 2009
Redaktion Börsenblatt
"Alles, was in digitalisierter Form vorliegt, gerät irgendwann, auf irgendeine Weise zum Freiwild." Ein Diskussionsbeitrag von Rainer Friedrich Meyer, Antiquar in Berlin.

(Folgendes ist keine abschließende Betrachtung, die zum augenblicklichen Zeitpunkt nur vermessen wäre, sondern Beitrag zu einer Diskussion, die von der Branche – oder von jedem einzelnen mit sich – geführt werden sollte.)

Was sind Digitalisate?

Sie sind keine Faksimiles, denn sie bemühen sich nicht um die möglichst nahe Nachgestaltung des Urbildes. Das ideale Faksimile wäre wie die Borgessche Landkarte Chinas ein Neues, das dem Alten so ähnlich produziert wäre, das es ihm darin, und dadurch in seiner Gestalt, gleichkäme.

In der realen Produktion ist man bestrebt, sich dem anzunähern: Papier, das wie Pergament ausschaut und sich ähnlich anfühlt, kleinrasteriger Druck, der den Tintenverlauf der Handschrift wiedergibt, Goldprägung, die in Glanz und Höhung echtem Gold nahekommt, Druck-Farben, die den mineralischen oder organischen der Miniaturmalereien und Initialen zu gleichen versuchen.

Mithin ist ein Faksimile ein Stellvertreter, der das schwer zugängliche Original für weitere Kreise von Benutzern und Liebhabern zu ersetzen versucht. Es ist sich seiner Grenzen bewußt, seine Hersteller wissen, daß die Annäherung nicht asymptotisch verläuft, sondern gezwungenermaßen immer in Distanz verweilt.

Während das Faksimile neben dem Sehsinn wenigstens versucht, andere anzusprechen, begnügt sich das Digitalisat mit dem einen: auf dem Bildschirm des Computers oder E-Buches sind Schriftzeichen und vielleicht Malereien zu sehen. Ihre Farben, ihre Kontraste, ihre Größen hängen ab von den beim jeweiligen Benutzer vorhandenen Geräten und deren spezifischen Einstellungen. Dem kann nur mittels mitgelieferter Farbbalken und Zollstöcke entgegengewirkt werden, doch werden die meisten Bildschirme nie kalibriert.

Also wird das Original entstofflicht, dadurch der Umfang provozierter Sinnenreize auf weniges verringert, und es selbst letztlich auf seinen textlich-semantischen Inhalt reduziert – seine bildhaften Botschaften geraten zu Annäherungen, die ebensogut fehlgehen mögen, da der Endpunkt des Übermittelungsprozesses, anders als beim Faksimile, nicht in der Macht der Herstellenden liegt.

Andererseits können bei genügend hoher Auflösung Details gezeigt werden, die dem normalen Auge ohne Hilfsmittel wie Lupen und dergleichen verschlossen blieben.

Nun steht zu befürchten, daß in Zeiten knapper öffentlicher Kassen die Bibliotheken ihre Benutzer mehr und mehr auf Online-Zugriffe beschränken, die Öffnungszeiten reduzieren, gar wertvolle Stücke kaum mehr werden vorlegen wollen.

An dieser Stelle, glaube ich, muß festgehalten werden, daß Digitalisate einen Verlust bedeuten: lebt der Mensch an sich immer in einem Umfeld, das alle seine Sinne anspricht, wie es beim herkömmlichen Buch noch der Fall ist (auch wenn es selten verspeist wurde), so schränkt das digitalisierte seine Rezeption auf den Sehsinn ein.

Nicht allein das, auch die einem alten Buch immanenten Hinweise auf seinen Entstehungsprozeß wie Buchdruck, Büttenpapier, Bindemethode, Art des Leinens, Leders oder Pergamentes, die bereits beim neueren weniger sind, da maschinell gefertigte Materialien und Photosatz verwendet werden, gehen beim Digitalisat gegen Null. Gerade jedoch diese Beiläufigkeiten der Genese eines menschlichen Produktes machen die ihm eigene 'Menschlichkeit' aus: es wird dadurch für uns begreiflich, kann zeitlich und handwerklich eingeordnet werden und 'Meta'-Informationen liefern, die einen Kontext um es aufbauen. Damit ist noch nicht einmal von einer Aura im Benjaminschen Sinne gesprochen.

Um es deutlich zu machen: das digitalisierte Original einer Handschrift und das digitalisierte Lichtdruckfaksimile derselben wären auf dem Bildschirm nur bei sehr hoher Auflösung unterscheidbar.

 

Welches nun sind die Folgen für den antiquarischen Markt?

Krankte der deutsche Nachkriegsmarkt, ausgeglichen teils durch den erhöhten Bedarf öffentlicher Institutionen, eh an der durch Flucht und Ermordung kleiner gewordenen Bildungsschicht und folglich an weniger allgemeinem, täglichem Umgang mit gedrucktem, gemaltem sowie selbstmusiziertem Kulturgut, wie es in den gutbürgerlichen Kreisen zuvor üblich gewesen war, so wird dieser früher selbstverständliche Ansatz, aktiv mit der Tradition umzugehen und sich als fortführender Teil ihrer zu verstehen, noch weiter zurückgehen.

Kultur ist in meinem Verstehen nicht das intellektuelle Auseinandersetzen mit Inhalten, sondern ein Ganzes, das als solches verstanden, auf allen seinen Ebenen den Teilhabenden Bedeutung zurückerstattet.

Begrenzt auf semantische Qualität geht nicht allein der Rest verloren, sondern Kultur selbst reduziert sich und entsagt ihrer früheren, umgebenden Fülle.

Auch heißt leichterer Zugang zu allem und jedem mittels digitalisierter Abbilder noch lange nicht, daß mehr Verstehen entsteht, sondern ein anderes, wenn überhaupt, das sich auf Teile des Ganzen, wie oben angedeutet, beschränkt.

Und schließlich wird wohl gelten, daß alles, was in digitalisierter Form vorliegt, irgendwann, auf irgendeine Weise zum Freiwild gerät, da seine Immaterialität einem geldlichen Gegenwert strikt widerspricht. So wie die Musikstücke auf MP3-Format geschrumpft die Festplatten füllen, so werden auch die – ungelesenen – Texte weitere Festplatten besetzen, allein des Sammelns wegen.

Daher halte ich beide kulturellen Einschnitte, den während der Nazizeit bis nach dem letzten Krieg und den jetzigen durch die Digitalisierung, in ihren Folgen (wohlgemerkt: nur darin!) für vergleichbar, durch ihre zeitliche Abfolge sich in ihrer Wirkung verstärkend und dem weiteren Tradieren europäischen Geistesgutes für wenig zuträglich.

Neben dem Gebrauchsbuch, dessen Nutzen sich vorerst im Lesen unterwegs, im Bett oder dergleichen erhalten wird, einfach weil die Menschen es so gewohnt sind und die jüngeren, denen es noch nicht Usus geworden ist, die eventuell den Bildschirm vorzögen, in den nächsten Jahren keine so große Marktmacht in diesem Sektor darstellen werden – neben diesem wird es weiterhin das antiquarische und künstlerische Buch geben, das fortan in die Nähe von Antiquitäten, Luxus und gehobener Kultur rücken, dessen Käuferkreis sich also dementsprechend verkleinern wird, da der zu seiner Rezeption notwendige Bildungsgrad höchstwahrscheinlich noch weniger denn jetzt wird vorausgesetzt werden können.

Fraglich bleibt, inwieweit an Digitalisate gewöhnte Benutzer imstande sind, sich dem Buch zuzuwenden, ob es für sie nicht eine obsolete Sache darstellt, der nur noch eignet, fossiliengleich in Ausstellungen und Museen bewundert zu werden.

Auf eine solche oder ähnliche Entwicklung werden sich Plattformen wie Antiquare möglichst rechtzeitig einstellen müssen. Das bedeutet schichtenspezifisch agieren und werben, die Gebrauchsbücher anders und für eine andere Kundengruppe präsentieren als die antiquarischen.

Rainer Friedrich Meyer