Eine Fahrt in die Vergangenheit – und in die Welt der Pünktchen

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Vom 10. bis zum 13. Juni 2009 machte sich das Oberseminar Frau Prof. Dr. Ursula Rautenbergs auf die Reise nach Halle und Leipzig. Auf dem Programm standen diesmal nicht die Verlage, sondern vielmehr Bibliotheken, Archive und ihre Arbeit – ein Bereich, der nicht nur für Bibliotheks- sondern auch für uns Buchwissenschaftler von Interesse ist. Hier eine Auswahl der interessantesten Programmpunkte.
„Er baut Schlösser für des gemeinen Mannes Sohn“

– dieser Slogan, der sich in einem der Ausstellungsräume der Franckeschen Stiftung findet, trifft den Kern des Wirkens von Francke sehr gut. Denn der Pietist August Hermann Francke, der die Stiftung 1698 gründete, erschuf einen Komplex aus zahlreichen Gebäuden, die neben einem Waisenhaus und einer Schule auch eine Druckerei beherbergten. Das eigentliche „Schmankerl“ aber ist die seit 1708 öffentlich zugängliche Historische Bibliothek mit mittlerweile 200.000 Bänden. Allein schon der erste Eindruck der kulissenartig im Raum angeordneten Bücherregale ist beeindruckend – und der Blick auf das Originalmobiliar aus dem 18. Jahrhundert vermittelt dem Betrachter eine Reise zurück in die Vergangenheit. Auch hier liegt der Grundstock im Pietismus Franckes, was sich vor allem an den Berichtsbänden pietistischer Pastoren im Missionsarchiv aus Amerika, Russland, Indien und dem gesamten südlichen Europa widerspiegelt. Unter der Fülle an Kunstwerken befanden sich zum Beispiel auch Besonderheiten wie beeindruckende Bibeln, die in der Originalsprache der zu missionierenden Stämme gedruckt wurden, oder botanische Bestimmungsbücher in herausragender Druckqualität.

„Von Planetenbewegungen und Korsettträgerinnen“

Dass sich eine Reise nach Halle lohnt, zeigte auch ein Besuch der besonderen Art am Nachmittag – in einem kleinen, versteckten Hinterhaus fanden wir ungeahnte Schätze der Druckkunst. Empfangen wurden wir von einem engagierten Trio älterer Herrschaften, die sich mit viel Herzblut und ehrenamtlichen Engagement den Aufgaben in der Marienbibliothek widmen.
Gegründet als eine der ältesten evangelischen Kirchenbibliotheken Deutschlands enthält die Marienbibliothek heute auch Bücher aus vormals katholischem Bestand, vor allem über 430 Inkunabeln. Darunter finden sich natürlich Bibelausgaben, theologische Werke und kirchliche Erbauungsliteratur (wie zum Beispiel Beichtbücher).
Wer aber vermutete, dass es sich um eine rein kirchlich ausgerichtete Bibliothek handelt, wurde von unseren enthusiastischen Führern schnell eines besseren belehrt: jeder von ihnen wollte uns als erster die ganz besonderen Werke aus seinem Fachbereich vorstellen – seien es ein Buch, das anschaulich das Tragen von Korsetts anprangerte oder astronomische Drucke zu den Planetenbewegungen, die uns von einem pensionierten Arzt sowie einem Physiker näher erläutert wurden. Dass es sich lohnt, die Reise dorthin anzutreten, können wir auf jeden Fall versprechen – dass unsere drei witzigen Führer da sein werden, leider nicht. Dennoch: das Engagement dort ist bewundernswert – und viele Bibliotheken könnten sich ein Stück davon abschneiden.

„Wie die Pünktchen ins Buch kommen“

Am letzten Tag besuchten wir die Deutsche Zentralbücherei für Blinde zu Leipzig (DZB). Sie ist eine der ältesten deutschen Leihbüchereien für Blinde und bietet weitaus mehr Aufgaben, als ihr Name zunächst vermuten lässt.
Zuerst wurden wir kurz in das DAISY-Programm (Digital Accesible Information System) eingeführt, mit dem es möglich ist, komplette Bücher auf nur eine CD zu bannen (dabei können Audio-CDs mit bis zu 40 Stunden bespielt werden). Das Besondere: uns wurde ein Abspielgerät vorgeführt, das einem echten Buch so nahe wie möglich kommt: man kann sich das Buch von Anfang bis Ende vorlesen lassen, dabei die Vorlesegeschwindigkeit variieren, von Kapitel zu Kapitel springen oder sich bei Kochbüchern in verschiedenen Hierarchiestufen an das Rezept annähern.
Daneben produziert und verleiht die DZB auch Hörbücher. Dafür gibt es in den weitläufigen Räumlichkeiten ein eigenes Tonstudio, in dem Bücher ungekürzt eingespielt werden. Die Bandbreite von über 9.000 Hörbüchern reicht dabei von den Klassikern der Weltliteratur über Romane, Kurzgeschichten bis hin zu Sachbüchern.
Neben einer Bibliothek ist die DZB aber seit 1894 auch eine Druckerei von Büchern und Zeitschriften in Braille-Schrift (Blindendschrift). Beim Rundgang war für uns Laien und unsere blinde Mitstudentin gleichermaßen faszinierend zu „sehen“, wie die Braille-Schrift in der Punziererei auf die Druckplatten geprägt wird (der anschließende Druckvorgang unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von dem normaler Bücher). In einem differieren diese Bücher dann aber doch: Sie sind weitaus großformatiger und dicker als ihre Vorbilder – was dazu führt, dass sich die wenigsten Sehbehinderten eine Bibliothek einrichten. Vielmehr können sie aus über 20.000 Bänden auswählen und sich diese Bücher bequem und versandkostenfrei nach Hause liefern lassen und sich dort drei Monate lang dem vollen Lesegenuss hingeben.

„Zum Greifen nah – und doch ganz Ohr“

Diese drei Stationen waren also die Highlights unserer Exkursion – doch weshalb fällt meine Wahl ausgerechnet auf sie?
Ich denke, die Franckeschen Stiftungen zeigen eindrucksvoll, wie nicht nur historische Sammlungen didaktisch ansprechend aufbereitet werden können, sondern auch, wie der Grundgedanke eines Mannes auch noch durch die Jahrhunderte hinweg aufrechterhalten werden kann: seine Ideen umzusetzen und zielstrebig zu verfolgen, lohnt sich also genauso, wie Vergangenes zu schützen und sich Gedanken um dessen Außenwirkung zu machen.
Ähnliches gilt für die Marienbibliothek, wo mich besonders das Engagement der ehrenamtlich Tätigen beeindruckt hat. Es ist traurig zu sehen, dass es viele Bibliotheken gibt, in denen der „Kunde“ einfach nur abgefertigt oder gar nicht erst beachtet wird – meiner Meinung nach könnte das Image der „verstaubten“ Bibliotheken und ihres Inhalts, ja, vielleicht der Bücher allgemein verbessert werden, wenn sich die Verantwortlichen darauf besinnen würden, dass Bücher nicht nur leere Hüllen, sondern anschauliches, lebendiges Material sind – das erst durch die entsprechende Präsentation wirkt. Und dass der Benutzer als solcher sich freut, in offene und hilfsbereite Gesichter zur sehen, die ihm mit einem Lächeln den Weg zum Gegenstand seiner Begierde weisen.
Im Gegensatz dazu lehrt uns die DZB, neue Formate und Ideen zu entwickeln und diese weiterzuverfolgen. Dabei ist sie „ganz Ohr und zum Greifen nah“, und zwar sowohl für Blinde als auch im Sinne der Ideenentwicklung für Sehende. In diesem Sinne sollten fruchtbringende Kooperationen angestoßen werden, die dem Medium „Hörbuch“ zu neuen Leistungen verhelfen. Damit beispielsweise die Zahl an Audi-CDs pro Buch sinkt und die Bücher ungekürzt erscheinen können – was letztlich allen Nutzern zu Gute kommt.