Im vergangenen Winter wurde der US-amerikanischen Öffentlichkeit drastisch vor Augen geführt, was Bibliothekare seit längerer Zeit berichtet hatten, als zwei Obdachlose, die den Tag in der Bibliothek von Arlington Heights, einem wohlhabenden Vorort von Chicago, verbracht hatten, sich eine Messerstecherei lieferten: Bibliotheken in den USA sind zu einem Refugium geworden für Arbeitssuchende und Obdachlose, für Menschen mit sozialen und psychischen Problemen.
Auf diese Besucher führen die Bibliotheken ihre drastischen Nutzungszuwächse in den vergangenen Monaten zurück: So verzeichneten die New Yorker Bibliotheken im Jahr 2008 mehr als 40 Millionen Nutzer, mehr als irgendwann in der Geschichte. In Los Angeles berichtet die Polizei, dass die Central Library im vergangenen Jahr zum Ort mit den häufigsten Diebstahlsmeldungen geworden ist. Eine ganze Reihe von Bibliotheken nehmen kein Bargeld mehr an für die Bezahlung von Fristüberschreitungen bei der Entleihe, nachdem sie zum Ziel von Überfällen wurden. In anderen Bibliotheken sind Polizeistreifen oder private Sicherheitsdienste unterwegs.
Für die "normalen" Bibliotheksnutzer hat die neue Situation häufig abschreckende Wirkung: US-Medien berichten davon, dass viele Eltern ihre Kinder nicht mehr unbegleitet in die Bibliothek gehen lassen.
Für die Mitarbeiter in den Bibliotheken stellt diese Situation eine immense Herausforderung dar: Neben Katalogisierung und Verleih von Büchern und Zeitschriften sind jetzt auch Fähigkeiten als Sozialarbeiter gefragt. Immer häufiger treffen sie Nutzer an, die an ihren Leseplätzen schlafen. Wer nicht lesen und schreiben kann, wendet sich an das Bibliothekspersonal und erbittet Hilfe beim Ausfüllen von Bewerbungsbögen. Andere Menschen sitzen hilflos vor Computerterminals, um ins Internet zu gehen, ohne zu wissen, was das eigentlich ist.
All diese Herausforderungen sind für die meisten Bibliotheksmitarbeiter allerdings eine Überforderung: Viele Bibliotheken im ganzen Land haben darauf inzwischen reagiert und bieten ihren Angestellten psychologische Betreuung und Schulungen an. Gleichzeitig wurden die Angebote an die neue Situation angepasst: Immer häufiger finden sich in den Bibliotheken auch Betreuer für Arbeitssuchende; Freiwillige wurden gewonnen, die Bewerbungen überprüfen und Rat geben können. Workshops werden abgehalten, mit denen Obdachlosen und Arbeitssuchenden Hilfestellung gegeben werden soll für das Leben in der Krise.
Was das alles mit Bibliotheksarbeit zu tun hat? Vielleicht auch hierzulande schon bald mehr, als uns lieb sein kann.