Heiliger Orwell, steh uns bei!

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Sie, liebe Leser, gehören sicherlich mehrheitlich zu denen, die bei jeder neuen Nachricht über erfolgreiches Vorgehen gegen Piraten wenigstens erfreut schmunzeln. Das tue ich auch. Sei es die gelungene Gemeinschaftsaktion der britischen und indischen Verlegerverbände, mit der kürzlich mehr als 80.000 illegal gedruckte englischsprachige Bücher in Neu Delhi beschlagnahmt wurden, sei es ein klares Wort der Politik in Sachen Urheberrechtsschutz in der digitalen Welt.

Und so habe ich auch zunächst verzückt geschmunzelt, als ich hörte, dass das britische Unterhaus jetzt ein massives Vorgehen gegen den illegalen Austausch von Daten plant. Als Abschreckung soll die Androhung dienen, den Bösewichtern den Internetzugang zu sperren. Diese Töne hören sich ähnlich an wie in Frankreich, wo das „Loi Hadopi“ jetzt im September beraten werden soll, und auch aus Österreich dringen mutige Politikerworte ähnlichen Kalibers in die Öffentlichkeit. Hierzulande erklärt Herr Naumann immerhin ganz tapfer, dass er über die Sache nachdenken will. Auch gut.

Beim zweiten Lesen der Nachricht begann ich allerdings zu Stutzen. Wie soll das funktionieren, was meine ehemaligen Landsleute im Insel-Königreich da vorhaben? Entdeckte Datenaustauscher sollen von ihren Providern gesperrt werden. Hmmja, soweit schön und gut, und die Vorstellung vom üblen Piraten, dem der Stöpsel aus dem Schiffsboden gezogen wird, ist ja ganz nett. Aber damit das geschehen kann, müssen die Übeltäter ja erst einmal entdeckt werden. Und wie soll das mit dem Entdecken funktionieren?
In der Praxis müsste das so aussehen, dass jeder einzelnen IP-Adresse, durch die Computer beim Zugang zum Internet automatisch identifiziert werden, eine Art digitale Überwachungskamera beigefügt werden müsste, die sämtlichen Datenverkehr nicht nur registriert (das geschieht bereits jetzt), sondern auch noch gezielt auswertet. Nach welchen Regeln soll das geschehen?

Natürlich ist es so, dass auch im analogen Leben der Versand von Botschaften und Gegenständen registriert wird – so funktioniert nun einmal ein brauchbares Postsystem. Aber bislang wäre es doch wohl so, dass wir alle aufschreien würden, wenn jeder einzelne Brief, jedes einzelne Paket geöffnet und auf seinen Inhalt überprüft würde. Nichts anderes aber sehen die britischen und französischen Gesetzesvorhaben vor – mit dem Unterschied, das hier nicht der Briefumschlag aufgeschlitzt oder die Paketschnur durchgeschnitten werden muss.

Der unbedingte Wille zur Überwachung des Treibens der Bürger scheint weltweit ein Bestandteil der Politiker-DNA zu sein – vielleicht ein Fall für fortgeschrittene Gentechnik. Dass das Überwachtwerden allerdings nicht wirklich zu den favorisierten Zuständen des Bürgers gehört, ist andererseits auch evident. Weshalb das französische Verfassungsgericht im Juni ja folgerichtig – und im Bürgersinne – entschieden hat, dass die dort vorgesehene „Haute autorité pour la diffusion des œuvres et la protection des droits sur Internet“ (allein der Name sollte doch Schrecken genug verbreiten) schlichtweg so nicht eingerichtet werden kann.

In Großbritannien gibt es zwar keine geschriebene Verfassung, allerdings dürfte schon das Oberhaus, das in den vergangenen Jahren zum verlässlichen Widerpart der Labour-Regierung geworden ist, den Regierungsvorschlag kassieren. Man bedenke, dass seit 30 Jahren jede britische Regierung schon vor der angestrebten Einführung von Personalausweisen samt Meldegesetzen zurückgeschreckt ist. Sowohl Maggie Thatcher in ihren Glanzzeit in den 80er Jahren als auch Tony Blair in den güldenen Zeiten von New Labour Ende der 90er Jahre wussten, dass ein solches Vorhaben angesichts der freiheitsbesessenen Wählerschaft politisches Harakiri gewesen wäre.

Die starken Worte gegen die Internet-Piraten, die allenthalben in Europa zu vernehmen sind, dienen möglicherweise denn auch einer ganzen anderen Sache: Dem Verschleiern des Bemühens aller Regierungen, sich in Sachen Urheberrecht möglichst bedeckt zu halten. Denn allenthalben haben die Regierungen ein großes Interesse daran, geschützte Inhalte selbst so billig wie möglich nutzen zu können. Klarer formuliert: Die Regierungen selbst und die staatlich betriebenen Institute, Universitäten, Schulen etc. sind weit größere „Piraten“ als die Datentauscher, denen man ans Leder will. Gegenüber der staatlich sanktionierten und bewusst encouragierten hunderttausendfachen Nutzung geschützter Inhalte durch diesen Sektor, der durch Beschwörung von Zugang zur Wissensgesellschaft oder durch alberne Formulierungen wie „kostenlose Nutzung in kleinen Mengen zum privaten Gebrauch“ verschleiert wird (in der realen Welt heißt das Ladendiebstahl), ist das private Runterladen und Tauschen von Inhalten vielleicht nicht unbedingt das größere Problem. Denn der private Nutzer, und mag er noch ein so übler Pirat sein, kann sich nicht gleich Gesetze schreiben, die der Enteignung anderer Leute dienen.

Nein, dies ist kein Plädoyer für ein „Laissez fair“ gegenüber illegaler Nutzung von Inhalten. Aber wir sollten uns klar darüber sein, dass hier mit zweierlei Maß gehandelt, mit gespaltener Zunge argumentiert wird. Und so haben die starken Worte aus Frankreich und Britannien für mich einen ziemlich strengen „haut gôut“ – oder, auf Englisch: „It stinks.“