Meinung

Die Wahrheit ist kompliziert

23. Juli 2015
Redaktion Börsenblatt
Warum in München niemand auf die Straße gegangen ist. Joseph von Westphalen erinnert sich.
Früher, als mir noch revolutionär und wölfisch zumute war und ich das Gegen-den-Strom-Schwimmen als einzig akzeptable Sportart ansah, gingen mir Geburts- und Gedenktage und Jubiläen aller Art nur auf die Nerven. Hype und Geschäftemacherei, fand ich. Man kann doch auch Kafka, Musil oder Goethe lesen und Mozart oder Mendelssohn hören, ohne dass die vor soundso viel runden Jahren geboren oder gestorben sind. Mittlerweile habe ich eingesehen, dass das kollektive Erinnern auch seine Vorteile hat und ein Mittel gegen die sich ausbreitende Ahnungslosigkeit und den Gedächtnisschwund ist. Kann nicht schaden, wenn die Alten mal wieder erinnert und die Jungen in Kenntnis gesetzt werden, dass vor 70 Jahren die schrecklichen Hitlerdeutschen den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brachen, und vor 40 Jahren Woodstock war.
Vor allem wird zurzeit verstärkt der vor 20 Jahren gefallenen Berliner Mauer gedacht. Eigentlich ist es gedenktagsmäßig erst am 9. November so weit, aber man hat gleich ganz 2009 zum »Themenjahr« erklärt und kann daher schon seit Monaten vorab Feiern abhalten und in Erinnerungen an das friedliche Zerbrechen der morschen DDR und des gesamten Ostblocks schwelgen.
Der damals in München lebende Günther Jauch wurde um einen prominenten Rückblick gebeten, in dem er sich beklagte, dass dort das Wunder der Wende nicht begriffen, dass auf den Straßen nicht getanzt worden sei. »München schlief wie jeden anderen Abend auch«, so Jauch.
Diese Bemerkungen haben die Internetkommentarseiten der Münchner Boulevardpresse zum Überlaufen gebracht. Der bübische Rateonkel, sonst so beliebt, wurde von Scharen erboster Bayern als Landesverräter beschimpft.
Die Leserbriefbajuwaren reagierten so gereizt, weil ein wunder Punkt getroffen wurde. München gilt als verschlafen und hört das gar nicht gern – weil der Vorwurf zutrifft. Südländisches Flair? Nicht am späten Abend oder in der Nacht. Da ist München tot. Stimmt schon: als die Mauer sich öffnete, haben wir ferngesehen, mit roten Backen und durchaus ergriffen allerdings. Ist aber doch vernünftiger, als auf der Straße herumzutollen wie bei der Fußballweltmeisterschaft.
Die ganze Wahrheit ist kompliziert und ideologisch: Es gibt viele Gründe, warum die klassischen Linksintellektuellen des Westens nicht so hemmungslos jubeln konnten wie der geradlinig denkende Günther Jauch.
Da war erst mal der Kanzler Kohl, der die Angelegenheit als Chefsache hurtig an sich riss und alsbald Blödsinn von blühenden Landschaften faselte. Mit dessen Schönrederei und Begeisterung wollte man nichts zu tun haben. Und weil die Wiedervereinigung vor allen von der Springerpresse gefordert, weil die DDR von den jetzt triumphierenden konservativen Medien als Gefängnis und der Kommunismus als Schnaps­idee bezeichnet worden waren, konnte man als Nichtkonservativer nicht über das große Scheitern der sozialistischen Idee erfreut sein. An der unausweichlich nahenden deutschen Einheit störte das nationale Getue. Die schwarz-rot-goldene Fahnenschwenkerei und das Deutschlandgegröle waren 1989/90 kaum zu ertragen.
Dass die in den Westen strömenden und ihr Begrüßungsgeld kassierenden DDRler gar nicht so fremd waren, wurde mir klar, als ich in Münchens Maximilianstraße vor einem Luxusmarkenartikelladen im damals noch ungewohnten Sächsisch den einzig richtigen Kommentar hörte: »Wer soll denn den Scheißdreck kaufen?«