Der Antiquariatsbuchhandel befindet sich in einer Krise. Genauer gesagt sind es zwei: eine konjunkturelle und eine strukturelle. In einer konjunkturellen Krise mag es noch Sinn ergeben, sich im Einkaufsverhalten antizyklisch zu verhalten, weil spätestens nach der Krise die Nachfrage wieder steigt. Aber was tun bei einer strukturellen Krise, in der ganze Absatzmärkte weggebrochen sind, Sammelgebiete regelrecht veröden und neue Sammler kaum noch nachwachsen? Ist es unter solchen Bedingungen kaufmännisch klug, größere Buchmengen noch einzubunkern? Gibt es so etwas wie eine vernünftige Lagerpolitik im Antiquariat? Für mich stellt sich die Frage: Wie werden sich zukünftige Lagerbestände des klassischen Durchschnittsantiquariats unter derartig schlechten Voraussetzungen entwickeln?
Lagerproblematik im "klassischen Durchschnittsantiquariat"
Unter einem klassischen Durchschnittsantiquariat verstehe ich Händler, die mit einer Ware aus allen Bereichen im Preissegment von 40 bis 500 Euro handeln. Daneben gibt es zahlenmäßig eine größere Gruppe von Kollegen, die ein Angebot im Preisbereich von einem bis 40 Euro anbieten. Diese Gruppe, oftmals auf den Verkauf im Online-Handel beschränkt, setzt über die Datenbanken mengenmäßig zurzeit noch viel Ware um. Allerdings beginnt hier ein 'kleiner' Lagerbestand bei circa 30.000 Titeln, eher größer, vor allen Dingen gespenstisch im Bestand stets steigend, schon alleine deshalb, um wachsende Konkurrenz und den rasanten Preisverfall auszugleichen. Einen Preisverfall, den sie im Übrigen durch sogenannte 'Preistools' selbst verursachen beziehungsweise vorantreiben. So gesehen ist es ein Wettlauf mit der Zeit.
Die dritte und somit letzte Gruppe, agiert mit Büchern im Durchschnitt von 500 Euro aufwärts und versucht diese über Messen und Einzelangebote oder aufwändig gestaltete, und somit teure Verkaufskataloge, anzubieten. Hier wird meist mit kleinen Lagermengen gearbeitet, schon aus Gründen der hohen Vorfinanzierung. Im vorliegenden Beitrag geht es eigentlich nur um die erste Gruppe, das klassische Durchschnittsantiquariat, das von der Lagerproblematik besonders betroffen ist. Immer wieder höre ich hier die Fragen: "Was soll ich ankaufen? Was lohnt sich noch einzulagern?"
Risikofaktor Lagerhaltung
Eine Lagerhaltung auf Abruf, so wie wir sie aus anderen Handelsbranchen kennen, kann es im Antiquariat nicht geben. Schon deshalb nicht, weil es ein Gelegenheitsgeschäft ist. Der Antiquar muss kaufen, wenn er glaubt, etwas sei günstig zu erwerben, denn er kann später, bei etwaigem Bedarf, nicht einfach nachbestellen. Hierin unterscheidet sich der Antiquariatsbuchhandel gravierend vom Sortimentsbuchhandel, der viel eher die Möglichkeit besitzt, mit kleinen Lagermengen Krisen auszujonglieren. Aber schon in guten Zeiten lag hier ein beträchtliches Risiko: Wer zuviel kaufte, verlor rasch durch eine enorme Vorfinanzierung an Liquidität und kam dadurch in die Situation der Überschuldung. Oftmals wurden sämtliche Barreserven inklusive aller Kreditmöglichkeiten voll ausgeschöpft und dadurch konnten fixe Kosten nicht mehr bedient werden.
Wachstum ohne Grenzen?
Im Zeitalter der Gigantomanie muss alles wachsen, egal wohin und zu welchem Preis. Die Datenbanken und die Buchlager werden stets größer, voller und letztendlich durch all dies zusammen: teurer. Denn Lagerkosten sind immer konstante Kosten, die unabhängig von der Größe des Umsatzes vorhanden sind. Auch dann, wenn der Lagerraum (fast) nichts kostet. Wer das Glück hat, eine Immobilie zu besitzen, für sein Lager keine Miete zahlt, muss dennoch neben dem Anschaffungspreis für die Ware, ferner Zeit und Raum für Pflege und Verwaltung des Lagers investieren. Wer einen Lagerraum gemietet hat, zahlt Miete hierfür, und dies kann gerade in Zeiten, in denen die Umsätze rückläufig sind und die Nachfrage stagniert, auf Dauer (zu) teuer werden. Nicht zuletzt werden die Einstellgebühren auf den Plattformen immer höher für immer größere Teile unverkäuflichen Bestands. Schon deshalb empfiehlt es sich, die Problematik der Lagergröße unter dem Kosten-Nutzen-Prinzip zu betrachten.
Krisenbewältigung durch Zukäufe
Krisen bringen oftmals irrationale Phänomene hervor. Märkte werden von Emotionen beherrscht, dies gilt sowohl für Käufer als auch für Verkäufer. So gibt es einen Teil von Kollegen, die gerade jetzt, in absatzschwachen Zeiten, das Lager mengenmäßig enorm 'aufrüsten'. Mit antizyklischem Verhalten hat dies weniger zu tun, als vielmehr mit einem seltsamen Verständnis von mathematischen Verhältnissen, im Sinne von 'viel nützt viel'.
Im festen Glauben, einen Mindestbestand halten zu müssen, um einen rentablen Umsatz (noch) monatlich erzielen zu können, werden Unmengen an Büchern auf unbestimmte Zeit eingelagert. Von Jahr zu Jahr werden es mehr, am Ende, spätestens bei Geschäftsaufgabe, bleibt die Frage: Wohin mit all der unverkauften Ware?
...oder Lagerverkleinerung?
Ein weitaus größerer Teil der Kollegenschaft jedoch reagiert anders: Das Lager wird in der Bestandsgröße – gerade jetzt in der Krise – verkleinert. Vereinzelt wird Quantität gegen höhere Preisqualität ausgetauscht. Ein ganz kleiner Kreis von Kollegen versucht den Titelhöchstbestand zu halten, quasi als Status quo. Verkaufte Bücher werden durch kleine Neuaufnahmen ergänzt.
Annäherungen an den Papierwert
Wird ein Antiquariat aus Altersgründen oder Insolvenz geschlossen, landet der Buchbestand zum Kauf häufig auf einer Auktion. Bis vor wenigen Jahren konnte man noch versuchen, ein Unternehmen an einen geeigneten Nachfolger zu veräußern, der automatisch auch das Warenlager mit erwarb. So blieben die Bücher zunächst in einem händlerischen Kreislauf erhalten. Dies dürfte nun vorbei sein. Vor drei Jahren wurde das letzte mir bekannte Antiquariat mit Bestand verkauft. Auf den Auktionen werden die Bestände notgedrungen in Konvolute aufgeteilt und versteigert. Die Ergebnisse sind ernüchternd und nähern sich bald dem Papierwert.
Einige Beispiele:
- Kiefer Auktion 75, Position 772: "Auflösung eines Antiquariatslagerbestandes. Konvolut von über 6.000 Bänden aus den Gebieten: Literatur, Theologie (18.–20. Jahrhundert), Württemberg, und etwas Geographie, Geschichte, Kunstbände, Musik, Naturwissenschaften, Varia" (Schätzpreis 7.000 Euro / Zuschlag 5.500 Euro).
- Kiefer Auktion 74, Position 821: "Auflösung eines Antiquariatslagerbestands. Konvolut von ca. 8.000 Bänden aus den Gebieten v. a. Literatur, Theologie (18.–20. Jh.), Württemberg, und etwas Geographie, Geschichte, Kunstbände, Musik, Naturwissenschaften, Varia. (…). Davon 6.000 Bücher bereits für das zvab aufgenommen, ausgezeichnet mit einem Verkaufspreis ca. 200.000 Euro. Desweiteren 2.000 noch nicht bearbeitete Titel" (Schätzpreis 7.500 Euro / Zuschlag 8.000 Euro).
- Kiefer Auktion 73, Position 508: "Auflösung eines Antiquaratslagerbestandes. Konvolut von ca. 8.000 Bänden aus den Gebieten vorwiegend aus Literatur, Theologie (18.–20. Jahrhundert), Württemberg, und etwas Geographie, Geschichte, Kunstbände, Musik, Naturwissenschaften, Varia. Davon 6.000 Bücher bereits für das ZVAB aufgenommen, ausgezeichnet mit einem Verkaufspreis ca. 200.000 Euro. Des Weiteren 2.000 noch nicht bearbeitete Titel" (Schätzpreis 15.000 Euro / kein Zuschlag).
- Kiefer Auktion 72, Position 547: "Auflösung eines Antiquariats. Konvolut von ca. 10.800 Bänden aus den Gebieten Orts- und Landeskunde Baden-Württemberg, Biographien, Geschichte 19. und 20. Jahrhundert., Kultur- und Sittengeschichte, Literatur 19. und 20. Jahrhundert, Literaturgeschichte, Lyrik, Philosophie, Politik, Sozialismus, Theologie, Varia" (Schätzpreis 12.000 Euro /Zuschlag 20.000 Euro).
- Kiefer Auktion 71, Position 3253: "Konvolut von über 1.000 Werken (tls. auch Kleinschriften) zum Thema Technik und Naturwissenschaften" (Schätzpreis 1.000 Euro / Nachverkauf 667 Euro).
Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren fortsetzen. Unmengen von Büchern überfluten den Markt. Eine Bücherschwemme droht, von der ein Großteil gar vernichtet werden muss, weil sich einfach keinerlei Absatzmöglichkeiten mehr ergeben. Der immer noch riesige Rest, der übrig bleibt, wandert erneut in den Online-Handel.
Bücherberge und Hobbyantiquare
Die Lager des professionellen Handels sind überfüllt, die Händler stark verunsichert. Auch verlieren immer mehr Kollegen die Lust, ausgelutschte Ware zu kaufen, egal zu welchem Preis sie angeboten wird. Was wird nun mit diesen gigantischen, unverkauften Bücherbergen passieren? Eine neue Gruppe von 'Antiquaren' nimmt sich ihrer an. Es sind Laien aus allen sozialen Schichten, die ein Antiquariat mehr hobbymäßig anstatt professionell betreiben. Eine Art Daytrader, die große Konvolute zu Spottpreisen erwerben, um diese mit geringen Gewinnen regelrecht erneut zu verhökern. Da die Bücher bereits im Ankauf billig waren, bleibt das händlerische Risiko für etwaige Verluste gering. Schlimmstenfalls wird die Ware zum Einkaufspreis wieder verschleudert, was erneut die Inflationsspirale innerhalb des mittleren Buchsektors anwirft und die Preise weiter nach unten in den Keller treibt.
Entscheidungsfaktoren: Zeit, Raum und Kapital
Die Entscheidung, ob und wie schnell ein Lager wachsen soll, unterliegt der unternehmerischen Freiheit. Jedoch ist diese abhängig von den Faktoren: Zeit, Raum und Kapital. Wer über diese drei Ressourcen ausreichend verfügt, wird anders entscheiden, als jemand der mit diesen Reserven sparsam umgehen muss.
Die Amortisationszeit ist das Problem. Der Abstand zwischen An- und Verkauf wird immer größer. Es ist unrichtig zu sagen, dass vieles sich gar nicht mehr verkaufe. Richtiger hingegen ist, dass vieles, was vor kurzer Zeit noch gut ging, nun lange braucht, um wieder zu Geld zu werden. So wird 'Zeit' zum Damoklesschwert im Antiquariat.
Unternehmerische Schicksalsfrage
Lagerbildung wird hiermit zur unternehmerischen Schicksalsfrage. Und zwar im doppelten Sinn: Entweder bleibt der Händler auf der unverkauften Ware zu lange sitzen oder es entgehen ihm, durch nicht mehr getätigte Ankäufe, etwaige Profite. Die Größe eines Buchlagers verknüpft sich aber auch eng mit der Frage nach mehr betriebswirtschaftlichem Wachstum. Und zwar nicht nur in Lagergrößen als vielmehr auch in Verhältnissen von Umsatz und Gewinn. Ähnlich wie in den politischen Diskussionen um mehr Wirtschaftswachstum gibt es Befürworter und Gegner.
Ob das Antiquariat in den nächsten Jahren überhaupt noch einen Wachstumsmarkt darstellen kann, soll hier nicht näher erörtert werden. Dies wäre einen eigenen Beitrag wert.
Bei allen zukünftigen Marktstudien und Statistiken muss das Lagerproblem stärker in den Vordergrund rücken. Nur so ergibt sich ein aussagefähiges Zukunftsbild des Antiquariatsbuchhandels: An- und Verkauf gehören zusammen. Im Lager steckt immer verborgener Umsatz, jedoch liegt im Umsatz auch stets die Zukunft.
Michael Eschmann