Es gibt verschiedene Wege, dem Leben und Wirken des in Prag geborenen und mittlerweile in Los Angeles lebenden Historikers Saul Friedländer zu begegnen, als Wissenschaftler, als Menschen mit einer bewegenden Lebensgeschichte und als Biographen. Als Wissenschaftler hat er – angesichts seines Widerstands gegen die auf Distanz bleibende historische Betrachtung des Dritten Reichs und vor allem der Judenverfolgung und -vernichtung – ein "Tiefenmodell" für seinen historiographischen Ansatz entworfen und sich mit Tagebuchaufzeichnungen und Briefen aus der Sicht der Opfer der Shoah, dieser größten Katastrophe der Menschheit, angenähert. Sein Hauptwerk "Das Dritte Reich und die Juden 1933–1945" hat viele seiner kritischen Historikerkollegen überzeugt. Sein Laudator bei der Friedenspreisverleihung, Wolfgang Frühwald, hat hervorgehoben, wie wichtig diese Arbeit für die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit ist, denn "die Geschichtsbilder werden jetzt fixiert, die Erinnerungsorte jetzt festgelegt, die Anteile von Erinnerung und Vergessen jetzt voneinander geschieden".
Saul Friedländer selbst hat dreißig Jahre gebraucht, bis er seine Erinnerungen an die Kindheit, den Verlust der Eltern und die Findung der eigenen Identität aufschreiben konnte. Seine Biographie "Wenn die Erinnerung kommt" wurde, auch weil er die israelische Gegenwart des Jahres 1977 mit in die zärtlich-traurige Beschreibung seiner Kindheit einbezogen hat, zu einer Mahnung vor Krieg und Verfolgung, Verrat und Vernichtung. Im Jahr 2007 hat er bei der Verleihung des Friedenspreises bewusst darauf verzichtet, eine Rede zu halten. Er hat die letzten Briefe seiner Eltern und einiger Verwandter vorgelesen, bevor sie in den Gaskammern der Nazis ermordet wurden. Es war kein weiteres Wort nötig, die hohe Emotionalität dieser Briefe schützte ihn als Mensch und rechtfertigte zugleich seinen wissenschaftlichen Anspruch.
Im September ist nun sein Buch über Kafka erschienen – eine Hommage an einen der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, verbunden mit einer subjektiven Annäherung des Biographen Friedländer, dessen Persönlichkeit gleich einem Palimpsest durch die Seiten scheint.
Wer das Vergnügen hat, ihn persönlich zu kennen, kennt einen jener Aufrechten, die an der Zerrissenheit der Welt und dem Verlust der Familie gewachsen sind. Er hat sich mit der eigenen Biographie trotz mancher Irrungen arrangiert und sich somit als wahrhaft groß(artig)er Mensch erwiesen. Zum 80. Geburtstag am 11. Oktober, lieber Saul Friedländer, die besten Glückwünsche!
Martin Schult