Michael Schikowski über die Bedeutung der Babyboomer

Zweites Leben

16. August 2018
von Börsenblatt
Die Generation 50 plus spielt schon jetzt eine Schlüsselrolle für die Buchbranche. Doch wenn die Babyboomer erst einmal in Rente gehen, werden sie noch viel wichtiger. Meint Michael Schikowski.

"Wohin man schaut", so der Soziologe Reimer Gronemeyer, "schämen sich die Menschen des Alten." Und was fällt uns als Buchhändler zum Alter anderes als Großdruck ein? Wie redet man eigentlich vom Alter, ohne nicht zugleich abwertend zu klingen?

Die Generation, die sich auf den Altersruhestand vorbereitet, die also in den Jahren 2025 bis 2035 in Rente geht, gehört zu den Babyboomern. Sie hat sich daran gewöhnt, sich als Problem wahrzunehmen, denn immer hieß es: "Ihr seid zu viele!" Das begann im Kindergarten und der Schule und wird nun auch in der Phase ihrer Verrentung nicht anders sein, denn es sind einfach viele! Das Verhältnis zur arbeitenden Bevölkerung stimmt nicht mehr. Aus der Sicht der Buchbranche kann man das aber auch anders darstellen: Gut, dass ihr noch da seid!

Gewiss, in den Verlagen sind längst die Jungen die Programmmacher. Und noch wird der abschmelzende Absatz halbwegs von steigenden Durchschnittspreisen ausgeglichen. Aber im Grunde ist die Generation 50 plus schon jetzt die für die Buchbranche entscheidende Generation der Buchkultur und wird es zukünftig in einem noch viel entscheidenderen Maße werden.

Die tiefe Buchsozialisationsdelle der digitalen Welt zeichnet sich bereits ab. Doch die Babyboomer sind in einer analogen Welt aufgewachsen, ihr erster Kontakt mit der digitalen Welt war der Commodore 64 oder der Atari. Ihre analoge Sozialisation war da längst abgeschlossen. Insofern sind noch sie die Gestalter der Bildungsrepublik Deutschland – und diejenigen, die Theatersäle füllen, in Opernhäuser gehen und Buchhandlungen aufsuchen.

Ihre Pensionierung ist nicht mehr fern, doch als Kunden werden sie dann umso interessanter sein, denn mit dem Ende des Arbeitslebens beginnt für diese extrem fitten Menschen das kulturelle Leben – und die Ersparnisbildung tritt in den Hintergrund. Sie haben nun Zeit, streichen mit der Hand über die Rücken ihrer Bücher, bauen ihre Sammlungen aus, ergänzen Verlorenes, kaufen lange Begehrtes wie zum Beispiel die "Tim und Struppi"-Gesamtausgabe.  

Das eröffnet die Chance zu weiteren schönen Entdeckungen, durch die diese Generation geprägt wurde, Titel wie zum Beispiel "Das Tal der Puppen" (Jacqueline Susann) oder "Midnight Cowboy" (James Leo Herlihy). Die Geschmacksmuster der Vergangenheit erwachen zu einem zweiten Leben und öffnen die Herzen der Babyboomer, rufen die Gefühle von ges­tern wach. Weiter zugespitzt lässt sich sagen: Vergangenheit überhaupt wird zur wichtigsten Umsatzressource der Zukunft.

"Unter den talentierten Startern", schreibt Helga Schütz in ihrer Altersnovelle "Die Kirschendiebin", "tauchten immer häufiger Grauköpfe auf, sogar Fünfzigjährige galten als junge Künstler." Ein Porträt des Künstlers als alter Mann – um es in Abwandlung eines James-Joyce-Titels zu formuieren. Der Großdruck, den wir bislang als Sonderfall für alte Augen bezeichnet haben, könnte dabei zum Normalfall werden – und ins junge Herz treffen.