Ukraine-Leseempfehlungen

Literatur aus der Ukraine

3. März 2022
von Börsenblatt

Viele Menschen möchten mehr über ukrainische Literatur erfahren. Eine kommentierte Leseliste ukrainischer Belletristik (Auswahl). 

Ein Publikum, das eine Kulturveranstaltung mit einer Haltung besucht, als ginge man auf die Barrikaden; es versteht intuitiv, dass man in diesem Krieg – sei es auch der dritte oder vierte Weltkrieg (wenn man den Kalten Krieg mitrechnet) – sich selbst anspornen muss: 'Fürchte Dich nicht! Schwächeln gibt’s nicht!' (auch wenn es nur um eine Abendveranstaltung geht). Das ist bereits ein Sieg, sicher nur ein kleiner, doch der Sieg eines ganzen Volkes setzt sich aus solchen kleinen persönlichen Siegen zusammen

Oksana Sabuschko

Das schrieb die ukrainische Autorin und Philosophin Oksana Sabuschko in einem Essay über Kultur in Zeiten der Bedrohung. Anlass war eine Lesereise durch das von den Bataclan-Anschlägen erschütterte Frankreich, dessen Situation sie mit der Ukraine nach Annexion der Krim vergleicht.
Oksana Sabuschko: „Der lange Abschied von der Angst“, Übersetzt von Alexander Kratochvil. Droschl, 2018, 64 S., 13 Euro

Romane aus der Ukraine

Juri Andruchowytsch: "Die Lieblinge der Justiz". Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp, 2020, 298 S., 23 Euro
Die im Lauf von Jahrzehnten entstandenen Erzählungen über Verbrechen in der Ukraine haben je einen wahren Kern, um den herum Andruchowytsch seine Geschichten fabuliert. Die Recherchen in der Rechtsgeschichte lotet Andruchowytsch ebenso heiterem Sarkasmus wie tiefem Ernst aus – das Verhältnis von Verbrecher und Justiz ist vielgestaltig. pg

Yevgenia Belorusets: „Glückliche Fälle“. Aus dem Russischen von Claudia Dathe. Matthes & Seitz Berlin, 2019, 154 S., 20 Euro
Die Fotografin und Schriftstellerin Belorusets beschäftigt sich ihn ihrem filigranen Prosaband mit dem Unbedeutenden, Zufälligen und Überflüssigen – denn dieses sei laut der Autorin eher davor gefeit, zum Diebesgut der Sieger zu werden. Obschon sich die Miniaturen nur schwer auf einen Nenner bringen lassen, akzentuieren sie doch alle das Leben in der heutigen Ukraine und widmen sich hierbei den verschiedenen Modi des Verschwindens, zumeist am Beispiel weiblicher Figuren. ts

Markijan Kamysch: „Die Zone oder Tschernobyls Söhne“. Übersetzt von Claudia Dathe, Matthes & Seitz, 180 Seiten, 20 €, ET 28.4.
Die Russen sollen die Umgebung von Tschernobyl erobert haben, hieß es vor einigen Tagen in den Nachrichten – was nun? Wer sich an 1986 erinnert, hält den Atem an. Kamysch ist der Sohn eines 2003 verstorbenen Tschernobyl-Ersthelfers, Atomphysikers und Konstrukteurs des Instituts für Kernforschung in Kiew. Seit 2010 hat er die Sperrzone von Tschernobyl illegal erkundet, das Buch ist sein Debüt. pg

Andrej Kurkow: „Graue Bienen“, Übersetzt von Sabine Grebing, Johanna Marx. Diogenes, 2019, 444 S. 24 Euro
Ein Bienenzüchter in der Ostukraine, der sich eigentlich aus allen politischen Lagern heraushalten will, möchte wenigstens seinen Bienenstaat in Sicherheit bringen. 

Tanja Maljartschuk: „Blauwal der Erinnerung“. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Kiepenheuer & Witsch, 2019, 288 S., 22 Euro
In ihrem Roman verknüpft die Bachmann-Preisträgerin des Jahres 2018 kunstvoll zwei Handlungsstränge und erzählt auf diese Weise sowohl von der Gegenwart als auch der Vergangenheit der Ukraine: Eine namenlose Schriftstellerin kämpft im heutigen Kiew mit ihren Angst- und Panikattacken, die sie mehr und mehr vereinsamen lassen. Halt findet sie jedoch in ihren Studien über den ukrainischen Nationalhelden Wjatscheslaw Lypynskyj (1882-1931). Eine gelungene Einführung in die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert. ts

Oksana Sabuschko: „Museum der vergessenen Geheimnisse“.  Übersetzt von Alexander Kratochvil, Literaturverlag Droschl, 2010, 760 S., 29 Euro
Sabuschkos politischer Familienroman widmet sich dem schwierigen Verhältnis der "ungleichen Brüder" Russland und Ukraine zwischen den 1940er Jahren bis in die jüngste Vergangenheit und verdeutlicht dabei, in welchem Ausmaß politische Tragödien das Leben der Menschen zwischen Lemberg und Kiew geprägt haben. Über die literarischen Qualität hinaus überzeugt das Buch durch seine aufschlussreiche Analyse des sowjetischen Unterdrückungsapparats und seine Schilderung des Widerstands der ukrainischen Frauen. ls

Sasha Maria Salzmann „Im Menschen muss alles herrlich sein“, Suhrkamp, 2021, 384 S., 24 Euro
Die Autorin, die 1985 in Wolgograd geboren wurde, in Moskau aufgewachsen ist und 1995 als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland kam, ist eine der angesagtesten jungen Dramatikerinnen. Sie denke gern in Purzelbäumen, hat Salzmann einmal gesagt. Auch ihr neuer Roman, der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand, ist ein Buch der Unruhe. Seine Autorin erzählt davon, wie sich Menschen in Umbruchzeiten neu orientieren, und führt dabei, abermals inspiriert von eigenen Erfahrungen, von der »Fleischwolf-Zeit der Perestroika« bis in die deutsche Gegenwart. hh/ws

Oleksij Tschupa: „Märchen aus meinem Luftschutzkeller“. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Haymon, 2019, 208 S., 19 Euro
Die von absurder Komik getragenen Geschichten dieses herausragenden Erzählbandes spielen an einem heißen Juli-Tag im letzten Sommer vor dem Krieg, der 2014 ausbrach. Eine jede der wundersamen, skurrilen und oft grausamen Episoden ereignet sich in ein und demselben Wohnhaus in der ostukrainischen Stadt Makijiwka. Der Titel des Buches verweist auf dessen Entstehungsgeschichte: Zehn Tage nach Beendigung des Manuskripts geriet das Stadtviertel des Autors unter Beschuss, so dass er in einen Schutzraum übersiedeln musste. ts

Jurij Wynnytschuk: „Im Schatten der Mohnblüte“, Übersetzt von Alexander Kratochvil, Haymon Verlag, 2014, 455 S., 22,90 Euro
Ein sprachlich unglaublich dicht gewebter und humorvoller Roman über das multikulturelle Lwiw (Lemberg) der 1930er Jahre und die Selbstbehauptung ukrainischer Kultur zwischen Stalin und Hitler. Das Buch erzählt die Geschichte von vier jungen Menschen, die sich im Moment der ersten Liebe Krieg und Vernichtung ausgesetzt sehen. Eine melancholische Liebeserklärung an Lwiw, die ukrainische Sprache und die Literatur als Überlebenselixier. ls

Serhij Zhadan: „Internat“. Übersetzt von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp, 2018, 300 S. 22 Euro
Ein Mann durchquert eine Stadt im Bürgerkrieg, um seinen Neffen aus dem Internat nach Haus zu holen. Hielt er sich bisher für eine Unbeteiligten in dem Konflikt, wird ihm bei den Begegnungen mit Opfern dieses Krieges mehr Verantwortung zuteil. Gefährlichen Situationen entlang der Frontlinie entkommen die beiden äußerlich unverletzt, aber was heißt das schon, wenn das drückende Gefühl der Bedrohung in einer belagerten Stadt kaum auszuhalten ist. Hier genügen Details, um die grausame Realität des jahrelangen Kriegs aufscheinen zu lassen. Zhadan lebt in der ostukrainischen Stadt Charkiw, seine Bücher der vergangenen Jahre drücken die zunehmende Düsternis der Lage aus. pg

Kurzbesprechungen von Tino Schlench (ts) / Literaturpalast, Leopold Strasoldo (ls) Instagram, Petra Gass (pg) / Börsenblatt