Autobiografisches Schreiben

Schreiben über das wahre „Ich“

27. Dezember 2022
Redaktion Börsenblatt

Autobiografisches und autofiktionales Schreiben liegt nicht erst seit Kim de l‘Horizons Debüterfolg »Blutbuch« im Trend. Schreibcoach Isabel Morgenstern erläutert, was zu beachten ist, wenn man ein Werk zur persönlichen Geschichte angeht. 

Wer bin ich, wie will ich gesehen werden? Mit dem autobiografischen Schreiben nähert man sich diesen Fragen an. 

Welche Zielgruppe sollen sich Autor:innen beim Schreiben vorstellen?
Der Rahmen, den Schreibende abstecken, ist eng verbunden mit der Frage: Warum schreibe ich? Dies bedeutet, zuerst bei mir selbst eine Bestandsaufnahme zu machen, bevor ich mich nach außen orientiere. Die möglichen Motivationen, die Autor:innen mitbringen, sind sehr vielfältig: Möchte ich eine komplexe Familiengeschichte aufarbeiten? Will ich meinen Nachkommen etwas ganz Persönliches hinterlassen? Möchte ich einen Beitrag zur Geschichtsschreibung leisten – z. B. zur Geschichte der DDR? Etwa wenn ich politisch verfolgt war? Oder möchte ich die Ein- und Auswanderungsgeschichte meiner Familie festhalten? Ist mit dem Buch ein Coming-out in Bezug auf die sexuelle Identität verbunden? Stellt man sich die Warum-Frage, wird deutlich, wer das Buch lesen soll. Dementsprechend kann ich meine Zielgruppe definieren und mich bewusst an eine private oder breite Öffentlichkeit richten.

Wie kann man einen inhaltlichen Fokus setzen?
Der Fokus sollte eng mit der Schreibmotivation verbunden sein, ansonsten ist die Gefahr groß, dass das Projekt versandet. Gleichzeitig sollte man den Markt gründlich recherchieren, um das eigene Buch gut zu platzieren. Das im englischsprachigen Raum verbreitete Genre des Memoirs setzt gezielt Schwerpunkte in der autobiografischen Erzählung. Als Autorin fokussiere ich mich auf ein wichtiges Thema, eine Lebensphase oder die Bewältigung einer bestimmten Lebenssituation. Ich muss nicht meine komplette Lebensgeschichte aufschreiben, sondern kann mich auf einen Aspekt beschränken. Mit diesem Erzählfokus kann ich auch mein Publikum besser erreichen.

Wie können die eigenen Erinnerungen bewertet werden? Was ist subjektive und was biografische Wahrheit?
Die Frage nach der biografischen Wahrheit lässt sich nicht einfach beantworten. Autobiografien haftet ja immer das Subjektive an. Gleichzeitig gibt es messbare Daten, die Rückschlüsse auf Sachverhalte geben können. Die muss ich natürlich mit in Betracht ziehen – Zeitgeschichtliches, historisch Belegtes usw. Einige Autor:innen beginnen gerade deshalb zu schreiben, weil sie „die Wahrheit“ suchen, weil in der Familie so viel geschwiegen und verschwiegen wurde. Das kann private Familiengeheimnisse betreffen oder zum Beispiel den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Familie. Biografisches Schreiben kann eine Annäherung an die Wahrheit sein, eine Suchbewegung, die man jedoch irgendwann – zumindest vorläufig – abschließen muss.

Im autobiografischen Genre sehen wir heute eine starke Tendenz zur Autofiktion – möglicherweise eine Antwort auf die wachsende Notwendigkeit, „sich immer wieder neu erfinden zu müssen“. Hier vermischen sich Erlebtes und Erfundenes auf äußerst fantasievolle und vielfältige Weise. Dabei geht es auch um das Spiel mit der Wahrheit, das als solches deklariert werden sollte, insbesondere wenn es moralisch-ethische Sachverhalte betrifft.

Im autobiografischen Genre sehen wir heute eine starke Tendenz zur Autofiktion – möglicherweise eine Antwort auf die wachsende Notwendigkeit, 'sich immer wieder neu erfinden zu müssen'.

Isabel Morgenstern

Wie viel sollte man bei einer Autobiografie preisgeben?
Ein Schlüsselmoment aller Autobiografien ist der Wunsch, zu erklären, wie man der Mensch geworden ist, der man ist, und welche Umstände dazu beigetragen haben.

Autor:innen müssen sich bewusst machen, dass sie nach der Lektüre von anderen auch als das Produkt ihrer Autobiografie oder ihres Memoirs wahrgenommen werden. Beim Lesen entstehen Bilder, Bewertungen, Urteile – ob ich als Autorin das möchte oder nicht –, und die haben Bestand. Das sollte ich vorher gründlich reflektieren. Daher ist es sehr wichtig, sich klarzumachen, was ich wem erzählen möchte. Als welcher Mensch möchte ich nach der Lektüre für andere dastehen?

Ein wichtiger Antrieb für autobiografisch Schreibende ist es oft, eine nachträgliche Zeugenschaft für das eigene Leben zu erhalten. Wichtig ist dabei, die Balance zu halten und nur das zu schreiben, was mir selbst zuträglich ist. Ein Gespür für Grenzen ist hier sehr hilfreich; weniger ist meines Erachtens oft mehr. Das Maß an Preisgabe muss stimmen, und ich muss mich gegebenenfalls beschränken.

Autobiografische Literatur muss heute keine umfassende Lebensbeichte mehr sein, sondern hat durch das Memoir neue Impulse erhalten. Ich kann mich auf ein Thema, auf eine Lebensphase, auf einen Aspekt beschränken. Dann kann ich mich auch auf meine Zielgruppe, das entsprechende Marktsegment usw. besser konzentrieren. Und plane bei Erfolg eine Fortsetzung. Dabei spielt natürlich auch ein professioneller Umgang mit dem literarischen Handwerkszeug eine große Rolle, z. B. Perspektivwechsel.

Eine Textkritik kann unter Umständen als Lebenskritik missverstanden werden.

Isabel Morgenstern

Apropos Perspektive: Welche Erzählperspektive empfehlen Sie?
Das Spiel mit der Perspektive ist eine sehr wichtige Erfahrung für autobiografische Autor:innen, insbesondere, wenn sie wenig Vorerfahrung im Schreiben haben. Spontan wählen die meisten die Ich-Perspektive, aber es kann sehr hilfreich sein, in der dritten Person zu schreiben. Manche Autor:innen berichten, dass es ihnen dann leichter möglich ist, sich ihren Themen anzunähern. Gegebenenfalls kann man den Text später wieder in die gewünschte Perspektive rückübertragen. Aber Achtung: Auch das Ich ist eine Erzählfigur.

Was ist bezüglich Persönlichkeitsrechte zu beachten?
Bei diesem sehr wichtigen Thema gilt es, sich abzusichern, um unliebsamen Überraschungen vorzubeugen oder sogar, um sicherzustellen, dass das Buch veröffentlicht werden darf. Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, Personen und Sachverhalte zu anonymisieren. Das Schreiben über nahestehende Personen kann heikel sein: Autor:innen sollten im Vorfeld die zugrundeliegenden Motive abklären. Am sichersten ist es, wenn man die entsprechenden Textstellen der betreffenden Person vor Veröffentlichung zu lesen gibt. Je näher einem die Person steht, umso wichtiger ist es ja, nach wie vor einen guten Kontakt miteinander zu pflegen. Vorsicht: Auch bei verstorbenen Personen können Nachfahren in Bezug auf das Persönlichkeitsrecht Einspruch erheben.

Wie ehrlich und nützlich sind Meinungen aus dem Freundeskreis?
Meinungen wohlwollender und zugleich kritischer Leser:innen sind sehr wertvoll. Es kann sein, dass das private Umfeld zu wohlwollend oder auch zu kritisch reagiert. Beides ist besonders Autobiografien nicht zuträglich; gerade Neulinge unterscheiden ja noch wenig zwischen Text und Erzählgegenstand. Eine Textkritik kann dann unter Umständen als Lebenskritik missverstanden werden. In diesem Fall kann eine professionelle Schreibbegleitung hilfreich sein oder auch der Kontakt und der Austausch mit Kolleg:innen oder Gleichgesinnten, die ebenfalls schreiben.

Autorin: vwei

Über Isabel Morgenstern

Schreibcoach Isabel Morgenstern

Isabel Morgenstern ist Fachreferentin für Biografiearbeit, Pädagogin und Schreibcoach. Nach einem Studium der Nordamerikanischen Sprach- und Literaturwissenschaft und weiteren Fächern hat Morgenstern den Verein Memory Biografie- und Schreibwerkstatt gegründet. 
Informationen zu ihrer Arbeit unter biografisches-schreiben.de