Deutscher Buchpreis

Die Taufe eines großen Autors

20. Oktober 2008
von Börsenblatt
Über die Anfänge des Buchpreisträgers Uwe Tellkamp, die einzig richtige Entscheidung der Buchpreisjury und die Ungläubigkeit des Autors darüber, schreibt Ulrich Rüdenauer.
Um das Jahr 1992 herum fand in einer kleinen Dresdner Buchhandlung die erste Lesung des gerade einmal 24 Jahre alten Autors Uwe Tellkamp statt. Man kann nicht gerade behaupten, dass Dresden damals Kopf stand und die Ankunft dieses jungen Talents jubelnd begrüßt hätte. Genau genommen haben die Dresdner diesen denkwürdigen Abend mehr oder minder verschlafen: Uwe Tellkamps Frau war anwesend und seine ehemalige Deutschlehrerin, denn Deutschlehrerinnen glauben immer, sie seien hauptverantwortlich für das Schriftstellerdasein ihrer ehemaligen Zöglinge. Des weiteren fand sich ein junges Studentenpaar ein, bei dem man nicht sicher sein konnte, ob es sich aus literarischer Neugier in die Buchhandlung verirrt hatte oder weil vielleicht der Kinofilm, den es eigentlich sehen wollte, schon ausverkauft war. Auch der Buchhändler hörte sich an, was Uwe Tellkamp zu sagen hatte. Das machte, alle zusammengezählt, ein Publikum von fünf Zuhörern, und ein Trost war es vielleicht, dass es auch manch etablierterem Autor zuweilen nicht besser ergeht. Tellkamp las aus seinem ersten Gedichtband, seinem „Urgedichtband“, wie er sagt, 1992 im Dresdner Kleinverlag Buchlabor erschienen. Schon diese ersten Zeilen drehten sich um Tellkamps „Nautilus“-Projekt, ein „spiralenförmiges“ Textgewebe, das bis heute weiterwuchert. Wer im Besitz dieses literarischen Debüts ist, darf sich glücklich schätzen. Nachdem Uwe Tellkamp am Montag vergangener Woche den Deutschen Buchpreis 2008 für seinen monumentalen Roman „Der Turm“ zugesprochen bekam, dürfte das Büchlein eine gehörige Wertsteigerung erfahren haben. Viele Besitzer werden sich darüber aber nicht freuen können – der Band erschien in einer bescheidenen Auflage von sechs Exemplaren. Das ist lange her. Man möchte fast sagen: Diese Geschichte klingt angesichts der Ereignisse der letzten Tage ein wenig unwirklich. Wenn man Uwe Tellkamp allerdings während der Buchmesse beobachtet hat, konnte man durchaus den Eindruck gewinnen, dass ihm eher der Rummel um seine Person unwirklich vorkommt. Und mehr noch vielleicht das, was in den letzten fünf Jahren geschehen ist: Nachdem er in den Neunzigern lange Zeit kaum noch geschrieben und stattdessen sein Studium der Medizin abgeschlossen hatte, erschien er 2004 fast aus dem Nichts in der literarischen Welt und gewann den Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Iris Radisch verkündete damals, man habe „einen großen Autor entdeckt“, und im Nachhinein klingt das geradezu prophetisch. Tellkamp veröffentlichte 2005 den Roman „Der Eisvogel“ über eine Gruppe rechtskonservativer junger Männer, der irritiert aufgenommen wurde, aber die darin steckende Sprachmacht und literarische Radikalität mehr als bloß erahnen ließ. Und nun sein, wie die Kritik nicht müde wird zu betonen, „Opus Magnum“: „Der Turm“. Turmhoch überragt dieses Werk nicht allein seines Umfangs wegen einen Gutteil der literarischen Produktion dieses Jahres; auch inhaltlich und ästhetisch greift es nach den Sternen. Einhellig wie selten zuvor hat die Jury des Deutschen Buchpreises den 1000-seitigen Abgesang auf die DDR zum „besten Roman“ des Jahres gekürt, und alle Rezensenten waren sich darin einig, dass eine andere Entscheidung einem Affront gleichgekommen wäre. Alleine dem Autor selbst war seine Favoritenrolle nicht ganz geheuer: Auf mehreren der Podien, die er im Lauf der Buchmessenwoche bestieg, beteuerte er, sich niemals als aussichtsreichster Preisanwärter wahrgenommen zu haben. Beim Buchpreis gehe es ja noch um ganz andere Dinge, es handele sich dabei um eine „knallharte Kalkulation“: Welches Buch lässt sich am besten ins Ausland verkaufen und am besten vermarkten – das seien doch die wesentliche Fragen, so der Ausgezeichnete. Manchmal aber, das lehrt diese Jury-Entscheidung, können auch literarisch herausfordernde und „dicke Bücher“ prämiert – und zu Erfolgen werden. Bis dato gibt es 155.000 Vorbestellungen des Buchhandels. Suhrkamp-Geschäftsführer Thomas Sparr bekundet, dass er solch rasante Verkaufszahlen bei einem Buch bisher noch nicht erlebt habe. „Lügen wir uns doch nicht in die Tasche“ – mit solchen Sätzen leitet Tellkamp gerne seine wohlreflektierten, punktgenauen Aussagen zum Buchpreis, zum Literaturbetrieb, zu seinem Schreiben ein. „Lügen wir uns nicht in die Tasche, Aufmerksamkeit wünscht sich doch jeder Autor“, sagt er, befragt nach der harschen Kritik am Prozedere des Preises im Vorfeld der Verleihung. Da hatte etwa Daniel Kehlmann von einem „entwürdigenden Spektakel“ gesprochen und dafür plädiert, den Preis am besten ganz abzuschaffen. Tellkamp hat einen etwas realistischeren, weniger bigotten Blick auf das Buchgeschäft: Der Wettbewerb beginne ja nicht erst auf der Longlist des Buchpreises, sondern schon beim Verkauf im Handel, ja, bereits mit dem Versenden eines Manuskripts an den Verlag – der wählt schließlich unter vielen Einsendungen aus, was verlegt oder was zur Seite gelegt werde. 250 Ablehnungen habe er zu Hause abgeheftet, allesamt aufgehoben nicht aus Masochismus, sondern zur Mahnung. Das schützt gegen allzu viel Selbstüberhöhung, falsche Erwartung und übertriebene Buchpreiskritik. Mit Verlagen hat Tellkamp einige Erfahrungen gemacht: Sein erstes Buch – nach dem Lyrik-Debüt – erschien 2000 bei Faber und Faber; dann kam „Der Eisvogel“ bei Rowohlt. Beim nun viel diskutierten Wechsel von Rowohlt zu Suhrkamp war es Tellkamp um die „Loyalität zu mir selbst und zum Buch“ zu tun. Mit anderen Worten: Rowohlt glaubte nicht an die Vermarktbarkeit eines 1000-seitigen Werks. „Es ging aber nicht nur um das Kürzen eines vorhandenen Textes, die Eingriffe fanden schon in der Arbeitsphase statt“, erläuterte Tellkamp bei einem seiner unzählbaren Interviews. „Der Text weigert sich dann, geboren zu werden.“ Bei Suhrkamp fand der 1968 geborene Autor offenbar bessere Bedingungen vor: „Es gibt solche und solche Verleger. Manche machen Versprechungen und halten sie nicht; manche machen keine und halten sie doch.“ Am liebsten würde Tellkamp ja Thomas Mann nachstreben – vom ersten bis zum letzten Buch einem Verlag treu zu sein. Überhaupt würde Tellkamp gerne der großen „Stifterfigur“ Thomas Mann nahe kommen, der in dem Milieu, aus dem Tellkamp stammt, noch in den 1980er Jahren als Gegenwartsautor gelesen wurde, dessen Bücher zur Selbstvergewisserung einer bildungsbürgerlichen Schicht in der DDR diente, die es offiziell gar nicht geben durfte. Genau in diesem Umfeld siedelt Tellkamp die Geschichte seiner „Turmgesellschaft“ an, erzählt mit Thomas Mann’schem Gestus von den Menschen im Dresdner Villenviertel Weißer Hirsch, die sich durchaus als Bewohner eines Elfenbeinturms fühlten. Klassische Bildung galt hier als Form des Widerstands gegen die Zumutungen des Systems. In diesem hat Tellkamp auch einige der „Fußtritte“ erhalten, für die er sich bei der Buchpreisverleihung bedankt hat – und so ironisch war das gar nicht gemeint. „Literatur erzielt dadurch eine gewisse Größe“, sagt er, „dass vielleicht doch ein gewisses Maß an Erlebtem drinsteckt.“ Und an Erlittenem, möchte man hinzufügen. Der „Turm“ hat noch einen anderen motivischen Gehalt: Man kann auch an den babylonischen Turm denken; Tellkamps gewaltiges Gesellschaftspanorama ist nämlich ein Roman, der in vielen Stimmen und Sprachen geschrieben ist, von Kommunikation und Sprachverwirrung handelt. Ganz am Ende, nach fast tausend Seiten, steht ein Doppelpunkt: Die so genannte Wende wird nicht erzählt, zumindest nicht in diesem Buch. Dass wir Tellkamps Figuren aber irgendwann wieder begegnen werden, dann in der Bundesrepublik, im „digitalen, medialen Zeitalter“, davon darf man ausgehen. Weniger eine „Fortsetzung“ als eine „Fortschreibung“ kann man von diesem konsequent seine Themen verfolgenden Autor erwarten. Zunächst aber wird ein „leichtes, lichtes Buch“ folgen, das bereits geschrieben ist. Und ein Vater-Sohn-Buch ist ebenfalls in Planung: „Der Zitronenrabe“ soll es heißen und handeln vom süß-sauren Familienleben mit dem kleinen Sohn. Der knapp zweijährige „Junge“ ist auf der Buchmesse immer präsent, auch wenn er nicht anwesend ist: Kein Interview, in dem Tellkamp seinen Sohn nicht erwähnt, in dem er nicht betont, wie sich der Blick auf den Alltag, auf die Gegenwart, auf die Welt durch das Kind geändert hat. „Ich hoffe, dass ich noch keine Luftkissen unter den Füßen habe. Aber die würde mir mein Sohn schon ablassen.“ Da seine Frau, die Architektin ist, eine feste Stelle in Freiburg hat, ist Tellkamp in die Rolle der „Mama“ geschlüpft. Von Freiburg kennt der Dresdner deshalb vornehmlich die Spielplätze. Die Schreibzeit muss gut geplant werden; ganz diszipliniert geht es lange vor Sonnenaufgang an die Textarbeit. Tagsüber fordert der Sohn alle Aufmerksamkeit. Eskapaden leistet sich Tellkamp auch auf der Buchmesse nicht. Noch nicht einmal am Abend der Preisverleihung. Um 21.45 Uhr sei er im Hotel gesessen, habe noch an einem Gedicht geschrieben; um 22 Uhr ist Schlafenszeit, Trubel hin oder her. Diese fast preußische Strenge gegen sich selbst spiegelt sich auch ein wenig im Auftreten Tellkamps: Er wirkt schnittig, ein wenig unnahbar, seine Kleidung zeugt von einer ganz eigenen Auffassung von Eleganz: Bei der Preisverleihung trug er einen schwarzen Anzug mit gelbem Hemd und gelben Socken; „Musik und Gift“, das sei es, was seine Literatur ausmache; „schwarz und gelb“ stehen zudem für die Stadtfarben Dresdens. Als Lokalpatriot erwies er sich auch beim offiziellen Fototermin nach der Preisverleihung, als er mit einer Mütze erschien, die einen Journalisten zu der spitzen Bemerkung verführte, ob das wohl das Barett des ehemaligen Panzerführers sei, der Tellkamp bei der ihm verhassten NVA war. Es handelte sich dann aber um eine Winzermütze aus Dresden, das Geschenk einer Verwandten. Tellkamps Antworten während des siebentägigen Interviewmarathons haben manchmal etwas Forsches, Drastisches, erweisen sich dann aber von schöner Anschaulichkeit; etwa wenn er davon berichtet, dass er den „Turm“ zwanzig Mal durchgearbeitet habe und schließlich das Gefühl hatte, „mein eigenes Erbrochenes zu lesen“. Seine Rolle als Schriftsteller sieht er so: „Wir sind im Grunde Dorfmusiker, und wir spielen zur Hochzeit auf.“ In jener Dresdner Buchhandlung anno 1992 war das noch eine sehr kleine Hochzeitsgesellschaft. Mittlerweile hat Uwe Tellkamp neben seiner Deutschlehrerin noch einige andere Hochzeitsgäste für seine Musik begeistern können; wo auch immer er auf der Messe auftrat, entstand augenblicklich Gedränge. Das Gefühl der Unwirklichkeit dürfte allerdings noch ein Weilchen vorhalten. „Ich bin kein Mensch, der im Mittelpunkt stehen muss.“ Das aber tut er nun unweigerlich, und noch sind die Auswirkungen des Erfolgs unabsehbar. „Nach der Messe werde ich wissen, was es gewesen sein wird.“ Und um das schöne Futur II noch etwas zu strapazieren: 2008 wird zwar nicht die Geburt und nicht die Entdeckung, aber doch die Taufe eines großen Autors gewesen sein.