Interview mit Bundespräsident Horst Köhler

"Gute Arbeit muss ihren Lohn haben"

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Bundespräsident Horst Köhler lädt für kommenden Donnerstag zum Finale des Vorlesewettbewerbs ins Schloss Bellevue. Mit dem Börsenblatt sprach der Schirmherr vorab über Lesen und Lernen, eine bessere individuelle Förderung von Schülern, das Urheberrecht und arme Poeten.  

Der Bundespräsident übernimmt seit 50 Jahren traditionell die Schirmherrschaft des Vorlesewettbewerbs. Zum diesjährigen Jubiläumsfinale haben Sie nach Berlin ins Schloss Bellevue eingeladen – eher Pflicht oder eher Freude?
Köhler: Eigentlich hatte mich der Börsenverein zum Jubiläumsfinale des Wettbewerbs nach Frankfurt eingeladen. Da kam mir die Idee, es andersherum zu machen, nämlich das Finale mit den Landessiegern zum Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue einzuladen. Daraus können Sie schon sehen, dass mir das eine große Freude ist – und außerdem eine Ehrensache.

Am Vorlesewettbewerb haben dieses Mal 640 000 Sechstklässler teilgenommen. Welchen Rat würden Sie ihnen mit auf ihren Lebensweg geben?

Köhler: Der Rat an die Teilnehmer, aber darüber hinaus an alle jungen Menschen: Je mehr man liest, desto mehr macht Lesen Spaß. Lesen hilft, zu einem Menschen mit individueller Weltsicht und gebildetem Eigensinn zu werden. Übrigens finde ich es auch wichtig, dass Kinder an die Lektüre von Zeitungen herangeführt werden.

Wie wichtig ist im heutigen globalisierten Zeitalter Lesekompetenz?
Köhler: Lesekompetenz ist immer wichtig – in jedem Zeitalter waren und sind Menschen mit Lesekompetenz besser geeignet, ihre eigenen Probleme und die Probleme ihrer Umwelt anzugehen und zu bewältigen.

Immer mehr Medien gibt es auch in digitalisierter Form. Können Sie sich vorstellen, dass in zehn Jahren die Kinder beim Vorlesewettbewerb vielleicht aus E-Books vorlesen?
Köhler: Heute kann man sich das noch nicht so recht vorstellen. Aber zehn Jahre sind sowohl in der technologischen Entwicklung als auch in der Entwicklung unseres Umgangs damit eine lange Zeit. Wer hätte sich vor zehn Jahren vorgestellt, wie sehr die Leute heute am iPod hängen? Für mich gehört allerdings zum Lesen und auch zum Vorlesen das Buch dazu, das Umblättern, das Anstreichen und so weiter. Ich finde auch interessant, dass Bücher unterschiedliche Einbände, Umschläge, Schrifttypen haben, sodass schon die äußere Form neugierig macht.

Im Internet ist Information meist kostenlos verfügbar, was bei Heranwachsenden dazu führt, dass sie nicht verstehen, warum sie für Inhalte Geld ausgeben sollen – auch bei Downloads und E-Books. Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, dass Autoren und Illustratoren für ihre Werke entlohnt werden?
Köhler: Die Vorstellung vom armen Poeten gehört – dem Urheberrecht sei Dank – dem vorigen Jahrhundert an. Denn das Urheberrecht schützt nicht nur den kulturellen Wert schöpferischer Leistung, sondern auch ihren materiellen Wert. Auch im künstlerischen und im geistigen Bereich gilt, dass gute Arbeit ihren Lohn haben muss. Ich finde es nicht gut, dass viele inzwischen durch die Möglichkeiten des Internet einen Anspruch auf kostenlose Nutzung künstlerischer und geistiger Produktion zu haben glauben. Das ist eine Art geistiger Ausbeutung oder gar Enteignung. Letztlich wird die künstlerische und geistige Vielfalt Schaden nehmen, wenn die Schöpfer oder Erfinder der Inhalte davon selbst keinen angemessenen Nutzen haben.

»Bildung für alle« war der Titel Ihrer ersten Berliner Rede am 21. September 2006. In Ihrem Dank an die Bundesversammlung am 23. Mai dieses Jahres haben Sie angekündigt, dass Bildung auch in Ihrer zweiten Amtszeit zu den Schwerpunkten Ihrer Arbeit gehören wird. Warum ist Bildung für Sie so wichtig?
Köhler: Gute Bildung hilft dem Menschen zu entwickeln, was in ihm steckt. Gute Bildung macht urteils- und genussfähig. Gute Bildung ermöglicht Teilhabe am Leben, in Beruf und Gesellschaft. Sie ist deshalb ein Schlüssel für eine gute Zukunft: für jeden Einzelnen wie für unser ganzes Land.

Heute erwarten Eltern häufig, dass die Schule nicht nur Fertigkeiten wie den Schriftspracherwerb vermittelt, sondern auch Umgangsformen und Sozialverhalten. Wie sehen Sie den Rückzug des Elternhauses aus der Erziehung?
Köhler: „Die Erziehung der Kinder ist zuvörderst das Recht und die Pflicht der Eltern“, heißt es im Grundgesetz. Ich bin überzeugt: Die allermeisten Mütter und Väter stellen sich dieser Verantwortung und tun ihr Bestes, um für ihre Kinder zu sorgen und sie zu erziehen. Aber es gibt auch Eltern, die sich überfordert fühlen oder überfordert sind – manchmal mit schwerwiegenden Folgen für die Kinder. Dann ist wichtig, dass Eltern mit ihren Kindern nicht allein gelassen werden.

Was müsste sich in Deutschland ändern, damit Bildung in der Gesellschaft einen höheren Stellenwert bekommt?
Köhler: Wir brauchen ein Klima der Bildungsbegeisterung in Deutschland. Ein Klima, in dem lebenslanges Lernen für die Menschen in unserem Land über den Schulabschluss, die Berufsausbildung oder den Studienabschluss hinaus ganz selbstverständlich ist; ein Klima, in dem Menschen erkennen, dass Bildung den eigenen Horizont erweitert und das Leben bereichert, dass Bildung – auch unabhängig von messbarem Nutzen – ein Wert an sich ist.
Wir brauchen mehr Anerkennung für die Menschen, die – ob als Erzieher, Lehrer oder auch als ehrenamtlich Tätige – andere auf ihrem Bildungsweg begleiten. Dazu gehören übrigens auch kompetente Buchhändlerinnen und Buchhändler. Und Lernende brauchen neben der Einsicht, dass Lernen bisweilen auch mühsam ist, die Aussicht, dass ihre Anstrengung sich lohnt. Gerade junge Menschen sollten die Erfahrung machen, dass sie gebraucht werden, dass nicht ihre Herkunft, sondern ihre Leistung über ihren Lebensweg entscheidet – dazu gehört, dass es ausreichend attraktive Ausbildungsplätze gibt: auch in Zeiten der Krise.

Sehen Sie die bundesdeutschen Schüler im europäischen und internationalen Vergleich für die Zukunft gerüstet? Was können wir besser machen?
Köhler: In Deutschland gibt es viele Schülerinnen und Schüler, die zur internationalen Spitzengruppe gehören. Aber wir wissen auch, dass noch immer viel zu viele junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen oder trotz Abschluss über nur unzureichende Kompetenzen verfügen. Was schon seit Jahren erkannt und in aller Munde ist – die bessere individuelle Förderung, die auf den Einzelnen eingeht und niemanden zurücklässt – muss deshalb noch in viel stärkerem Maße den Alltag in den Schulen und Ausbildungsstätten in Deutschland prägen.