55 Thesen zur Zukunft der Buchbranche

2025 - Eine schöne neue Welt?

9. Juni 2011
von Börsenblatt
Utopie oder klarer Blick in die Zukunft? Auf den Buchtagen in Berlin haben die drei Fachauschüsse heute 55 provokante Thesen zum Buchmarkt von übermorgen zur Diskussion gestellt. Zwischenbuchhändler Matthias Heinrich, Buchhändler Heinrich Riethmüller und Verleger Matthias Ulmer präsentierten ihre Szenarien für die Zukunft - diskutieren Sie mit, hier auf boersenblatt.net. Die Thesen im Wortlaut:

Branche

1. Alle gedruckte Medien verlieren an Bedeutung. Der Rückgang bei Buch, Zeitschrift und Zeitung liegt bezogen auf Vertriebserlöse jeweils bei über 25%.

2. Der stärkste Rückgang bei den Vertriebswegen für Bücher betrifft den stationären Buchhandel (-31%).

3. Die institutionellen Aggregatoren können mit einem geringen Wachstum rechnen.

4. Die Umsatzrückgänge im Bereich gedrucktes Buch werden durch Umsatzwachstum im Bereich Paid-Content ausgeglichen.

5. Die Content-Anbieter bei PaidContent sind nur bedingt identisch mit den Buchverlagen. Neue Anbieter nehmen alten Verlagen Marktanteile ab.


Verlage

6. Die Warengruppen 1-5 halten sich bei gedruckten Medien relativ gut, die Fachbuchwarengruppen und die Bildungsmedien verlieren erheblich an Bedeutung.

7. Klassische Absatzorganisationen müssen auf die neue Markt-und Produktstruktur Rücksicht nehmen.

8. Die Fokussierung auf den Sortimentsbuchhandel werden viele Verlage reduzieren müssen.

9. Konditionenmodellemüssen stärker nach Effizienz-und Rentabilitätskriterien geprüft werden.

10. Die Entwicklung elektronischer Angebote im Bereich Bildungs-und Fachmedien muss vorangetrieben werden.

11. Verlage müssen Know-How zu Konzeption, Produktion und Vermarktung von multimedialem Paid-Content aufbauen.


Sortiment


12. Der Sortimentsbuchhandel muss die durch Umsatzrückgang frei werdenden Flächen durch neue Produkte auffüllen.

13. Der Sortimentsbuchhandel muss neue Flächenkonzepte entwickeln.

14. Das Rechnungsgeschäft und die zugehörigen Deckungsbeiträge werden bei den meisten Sortimentsbuchhändlern verschwinden.

15. Das Schulbuchgeschäft und die zugehörigen Deckungsbeiträge werden bei den meisten Buchhändlern verschwinden. Das Volumen wird zurückgehen und sich auf spezialisierte Händler konzentrieren, die Print und Elektronik parallel anbieten können.

16. Das Fachbuch im allgemeinen Sortiment, die Fachbuchhandlung und die Campus-Buchhandlung werden größtenteils verschwinden.

17. Das Lehrbuchvolumen wird radikal zurückgehen.

18. Die Kundengruppe der Studenten geht den Fachbuchhandlungen als Käufer auch des allgemeinen Buchsortiments verloren.


Zwischenbuchhandel

19. Der Zwischenbuchhandel muss mit einem stark rückläufigen Volumen rechnen.

20. Die Konzentration im Zwischenbuchhandel verschärft sich von der Kostenseite, durch einen Rückgang der Buchhandlungen und durch Konzentration auf Verlagsseite zusätzlich.

21. Die Konzentration auf Verlags-und Buchhandelsseite kann auch zur Kostenentlastung beim Bücherwagen durch weniger Fahrstrecken und höhere Bündelung führen.

22. Die Flächenauslastung im Lager des Zwischenbuchhandels muss durch neue Produktgruppen verbessert werden.

23. Die Auslieferungsgebühren entwickeln sich je nach Umsatzprovisionsmodell oder nach Prozesskostenmodell deutlich unterschiedlich.


Verband

24. Die Beitragseinnahmen aus allen Sparten sinken durch den Rückgang des Marktvolumens.

25. Die Beitragseinnahmen aller Sparten sinken durch Mitgliederschwund durch Konzentration.

26. Die Auswirkung der Beitragsstaffel (Deckelung, Progression) im Bezug auf diese Entwicklung muss geprüft werden.

27. Die Umsatzverschiebung aus gedruckten Medien auf elektronische Paid-Content Angebote zwingt den Börsenverein zur Entscheidung, ob er den verbliebenen Buchmarkt repräsentiert oder auch die neuen Marktakteure als echte Mitglieder betrachtet.

28. Die Mission des Börsenvereins (Prinzip Buch) muss neu und verständlich formuliert werden.


Lobbyarbeit

29. Die Lobbyarbeit für die Sicherung des Urheberrechts bei elektronischen Produkten gewinnt zusätzlich an Bedeutung.

30. Die Lobbyarbeit für die Preisbindung bei elektronischen Produkten gewinnt zusätzlich an Bedeutung.

31. Die Lobbyarbeit für die reduzierte Mehrwertsteuer bei elektronischen Produkten gewinnt zusätzlich an Bedeutung.

32. Die Lobbyarbeit muss die Dramatik der Veränderungen im Bereich der Bildungsmedien für die Politik transparent machen.


Messe

33. Die Buchmessen werden mit einem rückläufigen Flächenbedarf der Verlage rechnen müssen.

34. Die Buchmessen werden mit rückläufigen Ausstellerzahlen bei den Verlagen rechnen müssen.

35. Die Buchmessen werden mit rückläufigen Besucherzahlen aus dem Sortiment rechnen müssen.

36. Die Leipziger Buchmesse kann sich als Messe für das gedruckte Buch profilieren und so Rückgänge in Wachstum umkehren.

37. Die Frankfurter Buchmesse muss die an den klassischen Buchmarkt angrenzenden Akteure noch stärker in den Blick nehmen.

38. Die Mischung von Angeboten in der Hallenbelegung muss überdacht werden.

39. Standkonzepte der Verlage müssen die problematische Darstellung elektronischer Medien (Vorbild Games Convention) und den erhöhten Beratungsbedarf der Händler berücksichtigen.


Börsenblatt

40. Die Zahl der Börsenblatt-Bezieher in den Sparten Verlag und Buchhandel wird um rund ein Viertel zurückgehen.

41. Die Zahl der Börsenblattanzeigen und deren Bedeutung werden zurückgehen.

42. Das Börsenblatt muss neue Produktinformationsmöglichkeiten für komplexe Paid-Content-Angebote entwickeln.

43. Das Börsenblatt muss ein crossmediales Fachinformationskonzept entwickeln.

44. Das Börsenblatt muss seine Themen im Bereich PaidContent deutlich ausweiten.

45. Das Börsenblatt muss die Zielgruppe der Leser auf PaidContent vorbereiten und ausrichten.


Mediacampus

46. Die Ausbildung am Mediacampus muss die Verschiebung der Umsatzschwerpunkte und die neuen Anforderungen berücksichtigen.

47. Die Bedarfsplanung am Mediacampus muss sich auf den erwarteten Rückgang der Unternehmenszahlen bei Buchhandlung und Verlag einstellen.

48. Die Bedarfsplanung am Mediacampus muss sich auf die veränderten Ausbildungsgänge einstellen.

49. Der Mediacampus muss die neuen Marktakteure im Bereich PaidContent ins Blickfeld nehmen und ein Aus-und Fortbildungsangebot prüfen. Das muss sowohl Buchhandelswissen für E-Content-Händler als auch E-Content-Wissen für Buchhändler umfassen.

50. Der Mediacampus muss insbesondere Konzeption, Technik und Verkauf von elektronischen Bildungsmedien (Schule und Studium) ins Blickfeld nehmen.


VLB/Libreka

51. Die vermutete Marktentwicklung kommt dem Geschäftsmodell von Librekaentgegen.

52. Die Abnehmer des VLB von Handelsseite gehen zurück, die Finanzierung muss ganz auf die Verlagsseite verlagert werden.

53. Die Titelzahl und der Bedarf an Orientierungsmedien steigen und unterstreichen die Bedeutung des VLB.

54. Die Bedeutung von Metadaten steigt.

55. Ein übergreifendes Verzeichnis zum Nachweis und zur Bereitstellung von Mediadaten für Bücher, E-Books, Apps, E-Papers und anderen Paid-Content-Angeboten wird dringend benötigt.

 

Diskussion

Nach der Vorstellung der Thesen gab es erst mal Applaus für die drei Vertreter der Fachausschüsse, die viel Arbeit in das Papier gesteckt haben. Dann kamen nach und nach die ersten Fragen:

So wollte Verleger Christoph Links genauer wissen, wie denn die "kühne Annahme" zustande gekommen sei, Verlage könnten ihre Umsatzrückgänge im Printbereich durch Paid Content-Einnahmen auffangen. Matthias Ulmer lieferte die entsprechenden Zahlen dazu: In ihrer Hochrechnung seien die Fachausschüsse auf ein Paid-Content-Volumen von 2,7 Milliarden Euro für 2025 gekommen - dieser Betrag entspreche eben in etwa den prognostizierten Rückgängen mit Printprodukten.

Auch Zwischenbuchhändler Thomas Bez hinterfragte diese These - schließlich seien digitale Produkte deutlich preiswerter als Printerzeugnisse. Also müsse man eine deutlich wachsende Nachfrage nach Content unterstellen, um an das Umsatzniveau anknüpfen zu können. Ulmer räumte ein, dass man grundsätzlich hinter alle Zahlen des Papiers ein Fragezeichen setzen könne. Die Annahmen müssten noch vertieft und detaillierter ausgearbeitet werden. Und seien eben nur: Prognosen.

Der Rostocker Buchhändler Manfred Keiper machte deutlich, dass er viele Punkte vermisse: "Wir müssten noch 55 weitere Thesen formulieren". Aus dem Publikum kam zudem die Frage, wie der Umsatzrückgang von 31 Prozent im Buchhandel so exakt beziffert werden könne: "Wir haben eben so genau gerechnet", sagte Ulmer augenzwinkernd. Ob 30 oder 31 Prozent - der Wahrheitsgehalt solcher Prognosen werde dadurch sicher nicht größer.

Die Branche muss sich auf einen schrumpfenden Markt einstellen: Das ist die Quintessenz, die Karl-Peter Winters, Vorsitzender des Verleger-Ausschusses, zog. Für die Verlage gehe es nun darum, sich ein möglichst großes Stück vom Paid-Content-Kuchen zu sichern. Er wünschte sich im Thesenkatalog auch Handlungsempfehlungen oder Erfolgskriterien für die Verlage.

"Prognosen sind schwer, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen": Mit Humor garnierte Peter Kraus vom Cleff, kaufmännischer Geschäftsführer bei Rowohlt, sein Fazit zum Papier. Er lobte die 55 Thesen als "guten Ansatz" und appellierte an die Kollegen: "Wir müssen uns verändern - bevor wir verändert werden".

Für eine ausführliche Diskussion der Thesen fehlte in Berlin die Zeit: Nach einer Stunde standen schon die Fachgruppenversammlungen der Verleger und Buchhändler auf dem Programm. Über die Thesen wird aber sicher noch weiter debattiert - heute abend bei der Großen Berliner Büchernacht in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg und in den Gremien des Börsenvereins. 

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