Interview mit Tchibo-Chef Markus Conrad

"Es wird eine Renaissance der kleineren Buchhandlungen geben"

9. Juni 2011
von Börsenblatt
Der frühere Libri-Manager und jetzige Tchibo-Chef Markus Conrad prophezeit dem inhabergeführten Buchhandel eine kleine Renaissance - und den Filialisten einen schweren Stand. Für die Branche wünscht er sich mehr frisches Blut.

100 Millionen Euro nimmt Ihr ehemaliger Konkurrent Oliver Voerster in die Hand, um KNV zu Europas führendem Medien-Logistiker zu machen. Eine gute Entscheidung im Zeitalter der Digitalisierung?
Conrad: Unternehmerisch ist das absolut richtig, auch wenn es sicher nicht leicht wird. Die nächsten Jahre werden bestimmt die anstrengendsten seines Lebens. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich weiß aber auch, dass sich alle Kraft, die mit dem Neuanfang von Libri in Bad Hersfeld verbunden war, gelohnt hat. Das Unternehmen setzt damit aber auch ein positives Zeichen für die Zukunft des gedruckten Buchs. Ich halte den Schritt nach vorn für alternativlos in einer Branche, die sich so sehr im Umbruch befindet.

Wie stellt sich der Umbruch aus Ihrer Sicht dar?
Conrad: Durch die Digitalisierung wird die Wertschöpfungskette auf den Kopf gestellt. Der größte Teil der derzeitigen Wertschöpfung ist ja mit der Erstellung und Distribu­tion des physischen Buchs verbunden. Am Anfang stehen Urheber und Autoren, die Kreativen. Und wir wissen, dass sie in der Regel nicht die wirklich Reichen unserer Branche sind. Diese Wertschöpfungsverteilung zeigt das Vernichtungspotenzial: Auf einmal steht ein riesiger Teil der Wertschöpfungskette zur Disposition. Die einzige Konstante bleibt der Wert des Inhalts, vertrieblich kann sich alles ändern.

Wo würden Sie in Sachen Vertrieb anpacken, wären Sie noch in der Buchbranche tätig?
Conrad: Ich würde mich dafür stark­machen, dass der stationäre Buchhandel endlich seine Chancen und seine Rolle im Internet erkennt und findet. 15 Jahre lang war dazu Zeit, aber trotz Angeboten, Aufforderungen und Beschwörungen ist – bis auf wenige Ausnahmen – bei vielen Buchhändlern kaum etwas passiert. Das ist wirklich bitter.

Wird es dem Sortiment dennoch gelingen?
Conrad: Schwer zu sagen, zumal jetzt noch ganz andere Herausforderungen hinzukommen: Es geht längst nicht mehr nur um die Präsenz eines Katalogs auf der Website, sondern es geht um Apps, den Vertrieb von E-Books und um das Kommunizieren mit den Kunden auf anderen Ebenen, etwa auf Facebook. Bis jetzt sind wir Händler immer davon ausgegangen, dass die Kunden zu uns kommen. Jetzt müssen wir alle gemeinsam die Transferleistung erbringen, zu den Kunden hinauszugehen. Das muss man natürlich wollen.

Und wollen die Buchhändler das?
Conrad: Sie sollten es wollen. Denn was ist das Tolle an Facebook & Co.? Einem Freund schenkt man einfach mehr Vertrauen als einem Händler und wohl auch mehr als jedem Suchmaschinen-Algorithmus. Das ist eigentlich banal und weder neu noch digital. Das müssen die Buchhändler nur eins zu eins für sich übersetzen. Man stelle sich nur mal vor: Über Facebook werden wir quasi an die Stammtische unserer Kunden eingeladen.

Wenn es für die Sortimenter schwer wird im Internet, schaffen sie es dann wenigstens stationär?
Conrad: Ich glaube, dass es eine große Chance für den stationären Buchhandel gibt; vor allen Dingen wird es eine Renaissance der kleineren Buchhandlungen geben. Allerdings liegt da noch eine ganze Menge Arbeit vor den Buchhändlern.

Nämlich welche?
Conrad: Der Buchhandel ist in eine gefährliche Falle gelaufen. Die Falle der Preisbindung. Weil alle Bücher überall gleich viel kosten, werden die Kunden auch überall gleich beraten. Und leider hat man sich zum großen Teil dafür entschieden, sie schlecht zu beraten. Statt Bücher zu sammeln, sollten Buchhändler Bücher aktiv verkaufen. Wer es versteht, eine persönliche Bindung zu seinen Kunden aufzubauen, wer Vertrauen etabliert, Service und Beratung bietet, der wird erfolgreich sein – oder bleiben.

Wie sehen Sie die Perspektiven für die Filialisten?
Conrad: Für sie ergibt sich ein dramatisches Dilemma. Sie haben zu große Flächen, müssen auf ihre Kosten schauen und ihr Personal, das ohnehin nur noch selten richtig belesen und beratend ist, noch weiter abbauen. Es besteht die meines Erachtens große Gefahr, dass Großflächen zu Servicewüsten verkommen.

Heil vor sinkenden Umsätzen suchen viele Buchhandlungen, gerade mit großen Flächen, in einem immer umfassenderen Non-Book-Sortiment. Ist das der richtige Weg?
Conrad: Glauben Sie an Non-Books, Klappe, die 20.? Die Non-Books gibt es schon ewig und sie kamen bei jeder kleinsten Krise aus der Truhe. »Verabschieden Sie sich aktiv vom Buchhandel – hissen Sie die Non-Book-Flagge.« Gerade das würde ich nicht tun. Stattdessen: Machen Sie Ihr Kerngeschäft, und das gut! Wenn bei einem zu starken Personalabbau der Verlust der Kundenbindung droht, dann droht durch beliebige Non-Books der Verlust des Kundenvertrauens, nämlich des Vertrauens in die Kernkompetenz.

Ein weiteres Thema, das die Buchhändler umtreibt, sind die E-Books. Werden sie im Buchhandel erfolgreich sein?
Conrad: Damit verbunden ist für mich die Frage: Glauben wir an Kundenbindung und daran, dass sich eine gewisse Großzügigkeit gegenüber den Kunden langfristig lohnt? Ich befürchte, dass im Buchhandel keiner so richtig daran glaubt, weil eben wenige so richtig in den Service am Kunden investieren. Im Moment können Buchhändler mit E-Books so gut wie nichts verdienen – und kümmern sich nicht darum. Ein Fehler, denn auf einmal sind die Kunden weg. Wer jetzt schon Offenheit und Kompetenz bei elektronischen Büchern demonstriert, wird hinterher profitieren. Davon bin ich überzeugt.

Manche Buchhändler stecken den Kopf in den Sand angesichts der zahlreichen Unsicherheiten. Ihr Tipp?
Conrad: Es ist ein großer Fehler, eine Verteidigungsschlacht gegen die unabwendbaren Umwälzungen zu führen. Es gibt im Geschäftsleben immer wieder Aufwärts- und Abwärtsspiralen. Die Schwierigkeit besteht darin, eine Kombination hinzubekommen von notwendigen Einschnitten und gleichzeitigen Investitionen in das, was man selbst für die Zukunft hält. Man darf sich nicht der Abwärtsspirale hingeben, sonst ist die eigene Kultur bald so kaputt, dass man keine neue mehr darauf aufbauen kann.

Verwerfungen gibt es ja nicht nur im Buchhandel, sondern auch bei den Verlagen …
Conrad: Hier steht für mich das Thema Vertrieb ebenfalls ganz oben auf der Agenda. Die Verlage müssen sich darüber im Klaren sein, dass Aufmerksamkeit für und Nachfrage nach Büchern im Wesentlichen dadurch geschaffen werden, dass das Buch in einer breiten Distribution überall sichtbar ist. Der stationäre Handel ist in diesen Zeiten also kein weniger wichtiger Partner, sondern von ihm hängt maßgeblich ab, ob es Verlage auch weiterhin geben wird. Das klingt jetzt defätistisch. Aber ich weiß, dass viele Verlage davon ausgehen, dass das stationäre Sortiment immer unwichtiger wird – und deshalb vernachlässigen sie es. Aber je mehr sie das tun, desto schneller geht es abwärts. Am Ende stehen sie mit ein oder zwei großen Kunden da, von denen sie auf Gedeih und Verderb abhängig sind.

Dann können die Verlage ihre Bücher ja immer noch über Facebook vertreiben.
Conrad: Das halte ich in Teilen durchaus für möglich. Im Facebook-Vertrieb sehe ich eine neue Form. In Communitys wird über Bücher gesprochen. Das zu managen, darauf Einfluss zu haben, das müssen die Verlage erst noch lernen. Allerdings ist ein so konservativ-traditioneller Familienkreis, wie wir ihn in der Buchbranche haben, auf solch eine Kommunikation gar nicht vorbereitet. Da wird noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten sein.

Apropos konservativ-traditionell. Wie schätzen Sie die Veränderungsbereitschaft der Branche ein?
Conrad: Die Branche braucht nichts dringender als junges, frisches Blut. Buchhändler und Verleger sind unglaublich verwöhnt durch absolut stabile Rahmenbedingungen und ein geradezu fantastisch konjunkturunabhängiges Produkt und eine intakte breite Distribution. Es geht alles sehr familiär zu, höchstens gibt es mal einen Familienstreit. Das ändert sich gerade. Der Markt ist nicht mehr deutsch, er wird international, grenz­überschreitend. Die Player, die die Geschäfte künftig betreiben werden, sind nicht aus der Familie, haben keine erblichen Verpflichtungen. Darauf muss die Branche reagieren.

Indem sie selbst Innovationen vorantreibt?
Conrad: So einfach ist das nicht, da muss ich meine ehemaligen Kollegen auch einmal in Schutz nehmen. Dass zu lange an Bestehendem festgehalten wird, zieht sich nahezu durch alle Branchen. Warum musste Apple den digitalen Musikladen erfinden? Warum hat Nokia das Smartphone verschlafen? Warum beglücken uns nicht die Ölkonzerne mit alternativen Energien? Besitz bindet und macht träge. Die allerwenigsten Unternehmen, die vor großen Veränderungen wichtig und bedeutend waren, haben diese Position retten können.