Ein Abend genügt nicht, die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Buchwelt und die gesamte Gesellschaft zu diskutieren. Das Thema ist zu vielschichtig und komplex, um überhaupt einen Konsens herzustellen. Den Teilnehmern des Podiums, zu dem die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in ihr "Literarium" einlud, hätte man dies durchaus zugetraut: der Wiesbadener Hirnforscher Dieter F. Braus; Torsten Casimir, Chefredakteur des Börsenblatts; die Schriftstellerin Tanja Dückers; die Sozialwissenschaftlerin und WBG-Autorin Marianne Gronemeyer - und last but not least der Literaturkritiker und Journalist Denis Scheck. Moderiert wurde die hochkarätige Runde von dem früheren ZDF-Kulturredakteur und "aspekte"-Moderator Alexander U. Martens, der seit 2005 die "Neuen Darmstädter Gespräche" im Staatstheater Darmstadt leitet. Die Gäste und Podiumsteilnehmer begrüßte Andreas Auth, Geschäftsführender Direktor der WBG, der die Gelegenheit für einen "kurzen Werbeblock" in eigener Sache nutzte.
Es wurde ein niveauvoller und zugleich unterhaltsamer Abend mit überraschenden Einsichten, ironischen Sentenzen und lustvoll platzierten Bonmots. "Es sind vor allem drei spannende Aspekte", meinte Alexander U. Martens, "über die wir heute abend sprechen sollten: Wie verändert die Digitalisierung unser Gehirn? Welchen Einfluss nimmt sie auf die Erziehung unserer Kinder? Und wie verändert sie die Welt des Buches?". Martens' Sorge: das Buch könnte, wie es schon Marshall McLuhan 1962 prognostizierte, "an den Rand gedrängt werden". Zugleich, so ein Zitat von Frank Schirrmacher aus dem Vorwort zu Nicholas Carrs "Wer bin ich, wenn ich online bin... Und was macht mein Gehirn so lange? Wie das Internet unser Denken verändert", bewirke der digitale Wandel eine "Industrialisierung des Gehirns".
Immerhin würden viele elektronische Medien, zum Beispiel Computerspiele, Dinge im Hirn auslösen, für die der Mensch "nicht optimiert sei". Wenn etwa permanent Belohnungen für einen Spielerfolg gewährt würden, führe dies zu einer unkontrollierten Dopamin-Ausschüttung, die Suchterscheinungen auslösen könne.
Dem weitverbreiteten Alarmismus im Umgang mit dem Thema erteilte auch Denis Scheck eine klare Absage: Vieles, worüber geredet wird, gebe es gar nicht. Und die Kritik an neuen Medien sei so alt wie die Philsosophie-Geschichte. Schon Plato habe die Verschriftlichung der Rede als Instrument der Verdummung gegeißelt. Das Buch sei nach wie vor die technisch am besten ausgeklügelte Lesemaschine, daran werde auch das E-Book nicht viel ändern.
"Ich bin kein hirngesteuertes Wesen", gab Marianne Gronemeyer dem Hirnforscher Braus contra und drehte die Diskussion auf die Ebene der persönlichen Welterfahrung. Und da erlebe sie einen Verlust an Körperlichkeit, auch im Prozess des Schreibens, der Ausdruck eines fundamentalen Wandels sei. (Zwischenruf von Scheck: "Steigen Sie mal in eine Kölner Straßenbahn, dann wünschen Sie sich Entkörperlichung!") Es komme, so Gronemeyer weiter, zu einer Auflösung von Erfahrbarkeit und Gegenseitigkeit, und sie erfahre sich nicht mehr als Subjekt, das digitale Werkzeuge nutze, sondern als "Anhängsel eines digitalen Systems". Den wesentlichen Unterschied zwischen der Lektüre eines gedruckten Buchs und eines E-Books wüsste sie allerdings kaum zu erklären.
Vielleicht läge das ja daran, so Torsten Casimirs Einwand, dass es gar keinen kategorialen Unterschied zwischen analoger und digitaler Lektüre gebe, wie aktuelle Studien belegten.
Tanja Dückers plädierte ebenfalls für einen unaufgeregten Umgang mit dem medialen Wandel. Den habe sie auch in ihrer 44-jährigen Biographie erlebt. Positiv erlebe sie, wie sich durch die digitalen Medien die Recherche vereinfacht habe; negativ, dass "ich nicht mehr das Gefühl habe, in einem geschützten Raum zu schreiben". Kaum habe sie einen Satz geschrieben, warte schon die nächste Online-Petition auf sie. Die "permanente Erreichbarkeit" sei ein Problem.
Nachdem der Ball zwischen den Diskutanten noch eine Weile hin- und hergespielt wurde, gab es am Ende doch so etwas wie Einigkeit: dass das E-Book nicht das Buch verdränge, allenfalls das Taschenbuch; dass es eine Gleichzeitigkeit von analogem und digitalem Lesen gebe; dass es vom Verhaltensmodell der Eltern abhänge, ob Kinder Bücher lesen.
Vielleicht hätte es ein anderes, abweichendes Fazit gegeben, wenn auch ein Vertreter der unter 20-Jährigen im Saal gewesen wäre. So wird man die Frage, wie es in näherer oder fernerer Zukunft ums Buch steht, und wie wir den digitalen Wandel bewältigen, spätestens bei der nächsten Jubiläumsrunde 2018 neu zu beantworten versuchen.