Interview mit Verleger Helge Pfannenschmidt

Die Typen hinter den Texten

12. Oktober 2018
von Börsenblatt
Der Foto-Text-Band "Das Gedicht & sein Double" ist das bislang aufwändigste Projekt der vielgelobten Dresdner Edition Azur. Verleger Helge Pfannenschmidt über den ehrgeizigen Versuch, der deutschsprachigen Lyrik-Szene ein Gesicht zu geben.

Seit mehr als fünf Jahren porträtiert der Fotograf Dirk Skiba, der an der Universität Jena als Dozent für Deutsch als Fremdsprache arbeitet und über seine Leidenschaft für Literatur zur Autorenfotografie kam, Dichterinnen und Dichter aus dem deutschsprachigen Raum – Etablierte und noch Unbekannte, quer durch die Generationen. Die Dresdner Edition Azur, 2005 gegründet und auf Kurzprosa und Lyrik spezialisiert, hat 100 der so entstandenen Schwarz-Weiß-Porträts zwischen Buchdeckel gebracht – und jedem Foto ein lyrisches Selbstporträt aus der Feder der Autorinnen und Autoren zur Seite gestellt. Wir haben mit Verleger Helge Pfannenschmidt über die Genese des Projekts gesprochen – und darüber hinaus über die Herausforderung, Poesie in gedruckter Form an Leserinnen und Leser zu bringen.      

Herr Pfannenschmidt, statt Ihres neuesten Projekts hätten Sie gut und gern auch zwei, drei neue Lyrik-Bände veröffentlichen können…

Natürlich habe ich meine Stammautoren, mit denen ich regelmäßig, alle drei, vier Jahre, einen Band mache. Aber ich bin auch begeisterungsfähig. Und in diesem Fall dachte ich: Wer weiß, wann es so eine Möglichkeit noch einmal gibt. 

Welche Überlegungen standen bei dem Projekt Pate?

Lyrik ist ein sprachgebundenes Genre, als Leser stößt man nicht mit der Nase darauf. Von Buchhändlern bekomme ich immer mal wieder gesagt, dass man Kunden gewissermaßen über Bande fürs Lesen von Gedichten begeistern kann – zum Beispiel, indem man zeigt, was für interessante Typen hinter den Texten stehen. Das Gedicht und sein Vortrag sind gleichermaßen wichtig. Der starke Zulauf bei Lyrik-Veranstaltungen in den letzten Jahren hat sicher auch damit zu tun. Das Buch entwickelt sich dabei ein bisschen zu einem Merchandising-Artikel. Es ist wie beim Besuch eines Pop-Konzerts: Wenn man da einen schönen Abend mit der Band hatte, nimmt man sich das T-Shirt mit, oder die Schallplatte. Eine andere Geschichte: Gerade als Veranstalter von Lyrik-Lesungen, die sich jenseits der üblichen Verwertungsmechanismen bewegen, merkt man, wie schwierig es oft ist, an gute Autorenfotos zu kommen. Ein Fotograf wie Dirk Skiba, der für seine Porträts Tausende von Kilometern quer durch die Republik zurückgelegt, Festivals besucht und viele Dichter zu Hause besucht hat, ist ein Glücksfall.

Die Leidenschaft sieht man den Porträts an ...

Auf jeden Fall. Dirk, selbst ein leidenschaftlicher Lyrik-Leser, hat seit vielen Jahren Dichterinnen und Dichter fotografiert. Nicht nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz; er war bereits in China, in der Ukraine, in Rumänien, in Nordkorea, zuletzt in Marokko. Vielleicht wird’s irgendwann noch mal einen "Poets of the world"-Band geben. Vielleicht ist diese Obsession auch ein Grund, warum die Porträtierten und er so gut zusammen ticken? Wenn man sein Leben, oder immerhin einen Großteil seiner Zeit für die Lyrik drangibt, ist das − ökonomisch gesehen − eine genauso wahnsinnige Entscheidung, wie für ein Bild hunderte Kilometer zu fahren. Wer das macht, will’s wirklich wissen!

Sie wollten mehr als eine klassische Porträtsammlung. Wie ist das Konzept entstanden?  

Wir haben uns dafür entschieden, jedem Porträtfoto ein gedichtetes Selbstporträt gegenüberstellen. Zum einen wollten wir kein rein voyeuristisches Bedürfnis bedienen; ein wuchtiges Coffeetable-Book würde der quecksilbrigen Lyrik-Szene auch nicht gerecht werden. Stattdessen wollten wir den Autorinnen und Autoren die Chance geben, auf ihre Porträts zu reagieren − wohl wissend, dass das für viele ein heikles Thema ist. Man kennt ja die Endlos-Diskussionen um die Klappenfotos.

Haben Sie die Ergebnisse des Experiments überrascht? 

Ich hätte gedacht, dass es mehr in Richtung Bildbeschreibung geht. Das ist relativ selten der Fall. Was wir dagegen relativ häufig haben, ist die Reflexion von Vergänglichkeit. Das wird einem besonders bewusst angesichts der Autorinnen und Autoren, die das Erscheinen des Bandes nicht mehr erleben: Ulrich Zieger, Anne Dorn, Günter Herburger oder Kito Lorenc. Das Spektrum der Zugänge reicht von Lydia Daher, die den Fotografen in ihrem Text direkt anspricht, bis zu Thomas Kunst, der ein Sonett übers Altern und die Selbstoptimierung schreibt.

In den meisten Fällen handelt es sich um Originaltexte?

Rund 70 Prozent der Texte sind exklusiv für diesen Band geschrieben. Bei anderen fragt man sich, wie der Text ohne das Foto enstehen konnte. Durs Grünbeins 'Selbstbildnis vor violettem Hintergrund' ist so ein Fall.

Der Band enthält exakt 100 Porträts in Text und Bild. Können Sie etwas zu den Auswahlkriterien sagen?

Die Lyrikszene ist riesig groß, allerdings ist es, glaube ich, kein Geheimnis, dass wir nur einen kleinen Teil davon bemerken. Es sind vielleicht um die 20 Namen, die immer wieder vorkommen − bei den Preisen, bei der Berichterstattung und so weiter. Auf die wollten wir natürlich nicht verzichten! Aber es gibt – ohne den überstrapazierten Ausdruck von den zu Unrecht Übersehenen strapazieren zu wollen – einfach viele sehr leise Autorinnen und Autoren in diesem Bereich. Und dann gibt’s andere, die das Pech haben, in der Provinz zu sitzen. Oder einen Verlag zu haben, der nicht in der Lage ist, genug Resonanz zu erzeugen. Es gibt Schreibweisen, die einfach wenig Andockmöglichkeiten für die Presse bieten. Oder, oder, oder...

Mir fällt das Bild des Eisbergs ein, dessen größter Teil unter der Wasserlinie ist…

Wir sind in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterwegs, wir haben Junge und Alte, wir haben mit Lisa Goldschmidt eine Autorin dabei, deren Debüt erst im kommenden Winter erscheint − aber eben auch Jan Wagner, der bereits alle relevanten Preise gewonnen hat. Wir zeigen verschiedene Szenen, die sich um Verlage ausgebildet haben, verschiedene regionale Schwerpunkte. Aber dann auch viele Autorinnen und Autoren, die keinem dieser Cluster angehören. Die Zahl der 'Einzelkämpfer' ist in der Lyrik nicht gerade klein.

Was erhoffen Sie sich von dem Band? 

Es wäre toll, wenn man den Verlag über die engen Grenzen der Szene hinaus wahrnimmt, wenn man sieht, was wir stemmen können. Wenn sich die Lyrikszene ein Stück weit als starkes Ganzes sieht, statt sich in Scharmützeln ihrer Sub-Szenen zu erschöpfen, wäre viel gewonnen. Sollte das Interesse an den porträtierten Personen auch das Interesse an der Lyrik selbst befördern, hätte sich die Arbeit wirklich gelohnt. Ich glaube schon, dass so ein Band das Potenzial hat, auch notorische Nicht-Gedichtleser zu missionieren (lacht). 

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Helge Pfannenschmidt, Jahrgang 1974, studierte Germanistik, Anglistik und Sprechwissenschaft/Rhetorik in Jena und an der University of Kent. Seit 2005 ist er Verleger der Edition Azur (https://www.edition-azur.de) und arbeitet zudem als freier Lektor. Er ist einer der Organisatoren des Dresdner Festivals Literatur Jetzt! (http://literatur-jetzt.de).

  • Dirk Skiba: Das Gedicht & sein Double. Die zeitgenössische Lyrikszene im Porträt. Herausgegeben von Nancy Hünger und Helge Pfannenschmidt. Edition Azur, 224 Seiten, 29,90 Euro.

Im Börsenblatt Heft 41, das zur Frankfurter Buchmesse erscheint, finden Sie eine Auswahl weiterer wichtiger Lyrik-Neuerscheinungen des Herbstes.