Diskussion im Hamburger Literaturhaus

"Ist Netflix das Lagerfeuer der heutigen Gesellschaft?"

1. November 2019
von Börsenblatt
Zum Abschluss der Reihe "Welche Zukunft hat das Lesen?" im Hamburger Literaturhaus fand am Dienstagabend eine Podiumsdiskussion statt: Experten gingen der Frage "Where have all the readers gone?" nach und zeichneten ein differenziertes Bild der Leselage.

Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, wies darauf hin, dass der deutsche Buchmarkt trotz den Rückgängen immer noch der zweitgrößte Buchmarkt der Welt sei. Dass der Börsenverein trotz der konträren Interessen der drei Sparten mit einer Stimme nach außen spreche, sei ebenso wichtig wie die große Vielfalt in der Branche, die durch den Wettbewerb erhalten werde. Nach dem in der "Quo vadis"-Studie festgestellten Käuferrückgang müsse man neu überdenken, welche Brücken man zu den Lesern und Käufern schlagen wolle, welche neuen Wege man gehen müsse, auch wenn die jüngsten Wirtschaftszahlen wieder positiver ausfielen.

Auf das zunehmende Zeitdefizit der Menschen wies Sandra Kegel von der "F.A.Z." hin. Digitale Geräte stünden dabei in Konkurrenz zum Buch - "ein Erwachsener hält es durchschnittlich nicht länger als 18 Minuten aus, ohne aufs Handy zu schauen". Dennoch werde die Sehsucht nach Geschichten bleiben, die Faszination, die von ihnen ausgehe. Die wird allerdings nicht nur mit Büchern befriedigt: "Ist Netflix das Lagerfeuer der heutigen Gesellschaft?", fragte Kegel.

Zunehmend würden Bücher als Lieferant von verlässlichen Informationen wieder geschätzt, führte Alexander Skipis aus; im Gegensatz zum Internet handelt es sich um geprüftes Wissen. "Der Bereich der Bücher aus Naturwissenschaften und Politik wächst", konstatierte der Hauptgeschäftsführer, allerdings sei er auch titelgetrieben: 200.000 verkaufte Exemplare von Michelle Obamas "Becoming - Meine Geschichte" schon in der ersten Verkaufswoche beispielsweise pushen das gesamte Segment.

Solange sie an der in der Branche sei, meinte Ute Schneider, Professorin für Weltliteratur an der Universität Mainz, jammere der Buchmarkt auf hohem Niveau; bereits im 19. Jahrhundert wurde vor dem Untergang des Buchs gewarnt. Ehrlicherweise müsse man sagen, dass das Buch nie ein Leitmedium in der Populärkultur war, sondern immer nur im Bildungsbürgertum. "Ich habe keine Angst, dass das Lesen als Kulturtechnik verschwindet", so Schneider, gerade im digitalen Bereich werde sehr viel gelesen. Auch die Themen "Buch und Lesen seien in der Gesellschaft positiv besetzt, wie man gerade bei Buchbloggern merke. Sie beschrieb einen unverkrampfter gewordenen Umgang mit Büchern als früher: "Man trennt sich inzwischen auch von ihnen, gibt sie weiter an Momox usw. - man muss sie nicht mehr unbedingt auf Dauer besitzen."