Krimis, die aus dem Rahmen fallen

Ungewöhnliche Erzähltöne

22. Januar 2020
von Börsenblatt

Einfühlsam, engagiert oder auch mal rotzfrech: Krimiautorinnen ziehen neue Register in der Spannungsliteratur. Eine Auswahl.

Alles war schon mal da: Schafe, Katzen und Gespens­ter als Ermittler, fein gesponnene Rätsel und Schlachtplatten, Cosy Crime, Regio- und Urlaubskrimis, natürlich Polizei- und Detektivfälle und jede Menge Serientäter – auch auf Autorenseite. Bewährtes läuft und läuft, und doch gibt es Raum für Titel, die aus der Reihe, aus dem Rahmen fallen.

Dazu gehört zum Beispiel der Thriller "Die Putzhilfe" (konkursbuch Verlag, 2019, 402 S., 12,90 Euro) der weit von klassischen Polizei- oder Rätselkrimis entfernt ist – so wie auch alle anderen Spannungstitel von Autorin Regina Nössler.

Die Titelfigur ihres neuen Krimis lässt auf einen Schlag ihr bisheriges Akademikerinnenleben und ihr Einfamilienhaus im Münsterland hinter sich und taucht in Berlin in einem Kellerloch ab. Sie lernt eine Witwe kennen, die ihr einen Job als Putzfrau anbietet, und wird von der verwahrlosten Jugendlichen Sina beobachtet – drei einsame Figuren, die Nössler um­einander kreisen lässt. "Sie erzeugt Spannung aus dem scheinbar Unspektakulären, aus den Abgründen des Alltags, spielt mit Vorurteilen, Erwartungen, Mustern, mit den Vermutungen der Leser, warum die Titelfigur ihr bisheriges Leben hinter sich gelassen hat – um ihre Geschichte dann ganz anders aufzulösen", so beschreibt konkursbuch-Verlegerin Claudia Gehrke das Besondere an diesem Thriller.

Autorin und Verlegerin arbeiten schon lange zusammen: Nössler lektoriert für konkursbuch seit 20 Jahren Romane und Anthologien, ihre eigenen Thriller erscheinen im Spannungsprogramm von konkursbuch. Selbstläufer sind solche etwas anderen Krimis aus einem Indie-Verlag mit einem kleinem Spannungssegment eher nicht, Gehrkes Geduld und Engagement beginnen sich aber auszuzahlen: Nösslers "Stand-alones" ohne Serienhelden werden von den Kritikern der "Krimi-Bestenliste" gewürdigt, und "Die Putzhilfe" hat gerade den zweiten Platz beim Deutschen Krimi Preis errungen.

Ebenfalls mit einer ungewöhnlich erzählten Geschichte fesselt Angie Kim. In dem kleinen Ort "Miracle Creek" ist ein Unglück geschehen: Sauerstofftanks sind explodiert, zwei Menschen dabei gestorben (hanserblau, März, übersetzt von Marieke Heimburger, 464 S., 22 Euro). War es kein Unfall, sondern Mord? Zumindest kommt es zur Anklage. Während einer Frau der Prozess gemacht wird, weil sie angeblich ihren Sohn loswerden wollte, erzählt Kim aus der Sicht verschiedener Beteiligter, was tatsächlich – oder vielleicht – geschehen ist. Der Roman der US-amerikanischen Autorin mit koreanischen Wurzeln ist ein spannendes Spiel mit der Unzuverlässigkeit von Zeugen, mit Schuldgefühlen, Vermutungen und vorschnellen Schlüssen.

Liz Moores Buch "Long Bright River" sieht dagegen auf den ersten Blick wie ein klassischer Polizeikrimi aus, geht es doch um die Aufklärung von Morden an drogenabhängigen Prostituierten, die aus der Perspektive einer Streifenpolizistin in Philadelphia erzählt wird (C. H. Beck, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, 414 S., 24 Euro). Tatsächlich setzt Moore aber etwas andere Akzente, indem sie der Lebensgeschichte der Polizistin wie auch der ihrer Schwester viel Raum gibt: Nach dem Drogentod der Mutter versorgte eine überforderte, verbitterte Großmutter die Mädchen. So ist "Long Bright River" ein spannender Thriller, der sich zugleich intensiv, einfühlsam und beeindruckend mit US-amerikanischen Drogenhöllen und mit prekären Kindheiten befasst.

Deutlich mehr in Richtung klassischer Polizeikrimis tendieren die Kopenhagen-Bände von Katrine Engberg. Sie punktet mit Mus­tern, die viele Krimi-Fans suchen, etwa mit einem gemischten Ermittlerduo, das trotz starkem beruflichen Engagement auch mit seinem Privatleben befasst ist. In "Glasflügel" ist der weibliche Part des Ermittlerduos in Elternzeit, kommt mit der neuen Rolle als Mutter aber nicht so richtig klar und mischt sich heimlich in die Ermittlungen der Kollegen ein, um zu Hause nicht durchzudrehen (Diogenes, Februar, übersetzt von Ulrich Sonnenberg, 448 S., 20 Euro).

Die Morde, mit denen das Team konfrontiert ist, führen in die Psychiatrie zu verstörten, verzweifelten Jugendlichen. Die Tradition skandinavischer Krimis ist deutlich: "Glasflügel" spiegelt dunkle Seiten der Gesellschaft und plädiert dafür, denen Hilfe zu geben, die sie in besonderer Weise brauchen – eine gelungene Mischung aus Spannung und Engagement.

Während "Glasflügel" bereits Engbergs dritter Kopenhagen-Band ist, steigt die schwedische Kriminalreporterin Tina Frennstedt neu in den deutschen Krimimarkt ein – mit einer Reihe, die um "Cold Cases" kreist, also um Fälle, die bislang nicht aufgeklärt wurden. "Cold Case. Das verschwundene Mädchen" ist der Auftakt (Bastei Lübbe, übersetzt von Hanna Granz, 448 S., 14,40 Euro).

"Skandinavien ist bei Lesern nach wie vor sehr beliebt, das ist aber natürlich nur eines der Auswahlkriterien für neue Titel", so Lübbe-Verlagsleiter Marco Schneiders – wobei er Frennstedts Fälle gerade nicht ganz als klassische schwedische Polizeikrimis sieht. "Sie gibt nicht nur den Ermittlungen Raum, das Besondere ist vielmehr, dass sie einen Fokus auf die Opfer und ihre Angehörigen legt, dass sie zeigt, was die Verbrechen für sie bedeuten, wie sie ihr Leben verändert haben, wie belastend es ist, wenn die Taten nicht aufgeklärt sind."

Was aber immer es an Besonderheiten gibt – jedes Buch braucht viel Unterstützung: "Das Spannungssegment steht mit seiner Fülle an Textangeboten und Neuerscheinungen enorm unter Druck, und alle Verlage müssen deutlich mehr als noch vor einigen Jahren trommeln, damit Bücher bei den Lesern ankommen", so Schneiders. "Bei der Auswahl der Titel sind wir dann immer auf der Suche nach dem Neuen, nach dem anderen, wobei wir an Bewährt-Vertrautes anknüpfen und zugleich besondere Akzente setzen wollen." Das geschieht mit Frennstedts "Cold Cases" oder auch mit Elizabeth Kays Thriller "Sieben Lügen" (Bastei Lübbe, Februar, übersetzt von Rainer Schumacher, 384 S., 15 Euro): Female Suspense mit unzuverlässiger Erzählerin in der Tradition von "Gone Girl" oder "Girl on the Train". "Auch das ist ja nicht prinzipiell neu, aber Elizabeth Kay hat uns mit ihrer Sprache überzeugt, ebenso mit den vielen Wendungen, mit der Raffinesse des Textes."

Spielraum gibt es nicht nur bei der Auswahl der Subgenres oder bei Erzählweisen, sondern auch bei den Hauptfiguren. Andreas Pflüger etwa hat bei Suhrkamp eine Blinde rasant in Szene gesetzt, und jetzt lässt Emma Viskic einen Gehörlosen ermitteln. "No Sound. Die Stille des Todes" (April, übersetzt von Ulrike Brauns, 304 S., 15 Euro) ist der Auftakt ihrer Serie bei Piper, in der es um die akustischen Begrenzungen des Ermittlers geht und darum, wie er sie kompensiert: durch genaues Hinsehen und durch eine besondere Sensibilität. Sehr gelungen gibt Emma Viskic der Sprache Raum, dem gesprochenen Wort wie der Gebärdensprache, und immer schwingt die Frage mit, wie Verstehen, dieser scheinbar selbstverständliche, tatsächlich ja aber erstaunliche, enorm komplexe Vorgang, funktioniert.

Schonungslos und in einem rotzigen, sarkastischen Ton erzählt die Pariser Strafverteidigerin Hannelore Cayre in "Die Alte" (ariadne, 208 S., 18 Euro, aus dem Französischen von Iris Konopik) die abenteuerliche Story der Arabisch-Übersetzerin Patience Portefeux, die nach dem Tod ihres Mannes am Rande des wirtschaftlichen Ruins lebt. Durch einen Zufall lernt sie eine Bande von Dealern kennen und steigt groß ins Drogengeschäft ein. Der Roman, für den Cayre 2019 mit dem Deutschen Krimipreis (1. Platz, International) ausgezeichnet wurde, seziert die desolate Verfassung der französischen Gesellschaft mit ihrem kolonialen Erbe und der Arabophobie.


Überraschungserfolge bleiben in dem ausdifferenzierten Spannungssegment zwar seltene Glücksfälle. Aber starke Auftritte und neue Akzente gibt es nach wie vor reichlich.