Die Sonntagsfrage

"Den Club Bertelsmann gibt es nicht mehr – sehen Sie neue Aufgaben für die Stiftung Lesen, Herr Maas?"

22. Dezember 2015
von Börsenblatt
Der 1950 von Reinhard Mohn gegründete Lesering, aus dem der Club Bertelsmann hervorging, hat zur Demokratisierung des Lesens beigetragen. Ändert sich mit der Schließung des Clubs etwa der Aufgabenbereich der Stiftung Lesen? Hauptgeschäftsführer Jörg F. Maas gibt Antwort.

In der Tat sehe ich Aufgaben für die Stiftung Lesen. Allerdings sind die nicht neu. Als Reinhard Mohn unter dem Eindruck der Nachkriegszeit im Juni 1950 den Lesering gründete – aus dem Der Club Bertelsmann hervorging – hatte er sich nach eigener Aussage zum Ziel gesetzt, „die Bücher zu den Menschen zu bringen“. Man darf festhalten: Er hat es geschafft und breite Bevölkerungsgruppen zum Lesen gebracht, die vorher keine oder zumindest keine regelmäßigen Leserinnen und Leser waren.

Natürlich haben dabei wirtschaftliche Beweggründe eine Rolle gespielt. Aber er hat den Prozess, die Barrieren zum Lesen zu senken, auch stets aufgrund seiner Überzeugung vorangetrieben, dass Bertelsmann als Unternehmen einen "Leistungsbeitrag zur Gesellschaft" beisteuern müsse. Diesem
Anliegen verdankt auch die Stiftung Lesen ihre Gründung im Jahr 1988, die zu großen Teilen dem Engagement und der Initiative Reinhard Mohns gemeinsam mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl zu verdanken ist.

Der Club Bertelsmann hat in den Jahrzehnten seines Bestehens in bestem Sinne des Wortes zu einer Demokratisierung des Lesens beigetragen. Zu seinem zehnjährigen Jubiläum im Jahr 1960 zählte der Club bereits 2,9 Millionen Mitglieder in Deutschland. Als die Mauer fiel, eröffnete der Club noch im Jahr 1989 eine erste Filiale in Dresden, weitere folgten. Der Club Bertelsmann hat es damit wiederum verstanden, Menschen, die eben noch unter dem Eindruck einer Diktatur standen, mit Literatur und Information zu versorgen, die zuvor verboten oder verfemt waren. Kurz: Der Club Bertelsmann blieb ein Motor für das Lesen.

Es ist schwer vorstellbar, doch ein Motor für das Lesen bleibt selbst in einem Land wie Deutschland mit seinen Bildungsstandards und der allgemeinen Schulpflicht nach wie vor von elementarer Bedeutung. Laut der leo. - Level-One Studie leben mitten in unserer Gesellschaft 7,5 Millionen funktionale Analphabeten im Alter von 18 bis 64 Jahren: erwachsene Menschen, die nicht in der Lage sind, Texte richtig zu verstehen und richtig zu schreiben. Die aktuellen IGLU- und PISA-Studien zeigen, dass mangelnde Lesefähigkeit ein nachwachsendes Problem ist: Rund 14 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, und auch in der Grundschule erreichen 15,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler kein ausreichendes Leistungsniveau im Lesen.

Dies hat weitreichende Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft: Knapp 50.000 Schulabgänger in Deutschland verlassen die Schule ohne Abschluss. Die Unternehmen hierzulande haben deshalb zunehmend Schwierigkeiten, ihre Ausbildungsplätze zu besetzen: Die Zahl der unbesetzten betrieblichen Ausbildungsstellen erreichte laut dem Berufsbildungsbericht 2015 mit 37.101 Stellen einen neuen Höchststand.

Diese Zahlen haben eine gesellschaftliche Dimension. Wenn durch alle Altersgruppen rund ein Sechstel der Bevölkerung nicht lesen kann und aktuell auch kaum Besserung in Sicht ist, hat dies negative Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort und die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. Aus diesem Grund müssen sich alle gesellschaftlichen Gruppen noch stärker als bisher für die Leseförderung engagieren.

Wo also sind die zentralen Schaltstellen, um die Weichen hin zu mehr Lesefreude und Lesekompetenz zu stellen? Hier herrscht längst Konsens unter Bildungsforschern und Leseförderern: Im Fokus der Leseförderung steht die Lesesozialisation in der Familie. Wir müssen so früh wie möglich in den Familien ansetzen und dort das Lesen und Vorlesen fördern. Hier liegt auch der Schwerpunkt der Arbeit der Stiftung Lesen, z. B. mit dem Sprach- und Leseförderprogramm "Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen", dem Projekt "Mein Papa liest vor" und dem Bundesweiten Vorlesetag natürlich. Diese Angebote wollen wir im Jahr 2016 ausbauen und verstetigen. Gleichzeitig darf Leseförderung mit dem Eintritt der Kinder in die Schule nicht aufhören:
Im Schulunterricht selbst und auch begleitend zur Schule in ihrer Freizeit müssen wir Kinder und Jugendliche immer wieder neu für das Lesen begeistern – durch leicht zugängliche und niedrigschwellige Angebote, die ihre Lebenswelt widerspiegeln und sie in ihrem Alltag abholen.