Hörbuch-Novitätenlese

Großstadtsound

21. April 2016
von Börsenblatt
In üblen Kneipen, auf der Reeperbahn, in Berlin, Paris und New York spielen die Hörbücher des Frühjahrs. Viele Klassiker sind darunter, teils in neuer Übersetzung. So mancher Autor von heute liest am liebsten selbst vor – und das mit Brillanz. Hier kommt das Beste der Saison.

Die einen halten ihn für den paradigmatischen Popliteraten, andere für den ewigen narzisstischen Schnösel mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Aber auch wer mit Skepsis "Panikherz" (Tacheles, 13 CDs, 29,99 Euro) zu hören beginnt, sieht sich von Benjamin von Stuckrad-Barre bald in den Bann gezogen, schon von der ersten, fabelhaft komischen Szene auf dem Flughafen von Los Angeles, wo sein Freund, der alte Lebenskünstler und Panikpräsident Udo Lindenberg, sogar den Grenzbeamten zum Schmunzeln bringt.
Später gibt es wortmächtig und witzig beschriebene Passagen, zum Beispiel über die Lehrjahre im deutschen Musik­journalismus oder die Teufelskreise der Bulimie. "Panikherz" gewinnt als Autorenlesung, nicht nur weil sich von Stuckrad-Barre auf den Auftritt am Mikrofon versteht, sondern auch, weil sich eine solche Drogenkonfession aus dem Mund eines Schauspielers viel weniger authentisch ausnehmen würde.

Dafür müsste man dann in die dritte Person wechseln, wie es der Clubbetreiber Volker Hauptvogel in seinem von Guntbert Warns gelesenen Veteranenbericht "Fleischers Blues" (Deutsche Grammophon, 4 CDs, 19,99 Euro) tut. Auch dies ein Stück Popliteratur, über die wildkaputten Siebziger in Kreuzberg, wo die Dichte an Drogen ebenso hoch ist wie die an Anekdoten. Es läuft auf ein Damaskuserlebnis hinaus: Der Hippie-Saulus wird zum Punk-Paulus und formiert die Band MDK. Warns liest temporeich und temperamentvoll und setzt Glanzlichter bei den berlinernden Kreuzberger Originalen.

Dem noch viel kaputteren Reeperbahnmilieu jener Zeit widmet sich Heinz Strunk in seinem Roman über den Frauenmörder Fritz Honka. Der titelgebende "Goldene Handschuh" (Tacheles, 5 CDs, 19,99 Euro) ist die übelste Absteigekneipe, die je in der deutschen Literatur dargestellt wurde. Ehemalige Häftlinge, Fremdenlegionäre, Seemänner, Zuhälter, abgehalfterte Huren und komplett Gescheiterte saufen und schwadronieren dort in reduzierter Sprache vor sich hin, verfügen allerdings über einen reichen Wortschatz für die Spielarten des schweren Alkoholmissbrauchs wie "Schmiersuff", "Sturzsuff", "Druck­betankung" oder "Vernichtungstrinken". Keine Frage, eine ideale Vorlage für den Vorleser Strunk, dessen viel gepriesener Roman in dieser Darbietung noch einiges an Plausibilität und schwarzer Komik dazugewinnt: als Leidensbericht aus einer verrohten und geschundenen Seele, der passioniert vorgetragen sein will. "Der goldene Handschuh" ist ein Meisterwerk in der Tradition von Büchners "Woyzeck".

Michael Köhlmeiers kleiner Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" (Hörverlag, 3 CDs, 19,99 Euro) erzählt von der sechsjährigen Yiza und dem wölfischen Überlebenskampf in der fremden, großen Stadt. Seine Lesung ist präzise, wägt jedes Wort und jede Betonung ab. Köhlmeier hat einen charismatischen Ton, aber kein Märchenonkel-Raunen, was auch nicht zu dieser doch ziemlich dunklen Parabel passen würde, die ein hintergründiges Spiel mit den Ambivalenzen betreibt, die uns in Zeiten der Flüchtlingskrise alle beschäftigen und quälen.

Wie man mit dem Regenschirm philosophiert, um der Ambivalenzen vielleicht Herr zu werden – darum geht es in Thomas Hürlimanns Nietzsche-Vortrag, der aus einer rätselhaften Nachlass-Bemerkung des Denkers ("Ich habe meinen Schirm vergessen") eine inspirierende, zwischen Lebensweisheit und Derridada aufgespannte Hörbuchstunde macht ("Nietzsches Regenschirm", Argon, 1 CD, 14,99 Euro). Die Symbolik des Regenschirms ist fabelhaft: Heiligenschein und Engelsflügel, metaphysischer Baldachin und mobile Pagode, Bischofsstab für Jedermann, Phallussymbol, Zaubergerät. Hürlimanns schweizerischer Dialekt gibt den luftigen Ideen Bodenhaftung: Nietzsche, das "philosophische Tier, das mit den Nüstern nach innen wittert", "Nüüüsterrrn", "witterrrrt" – wunderbar.

Hanns Zischler liest die Neuübersetzung jenes Romans von Graham Greene, der als Film zum Klassiker wurde: "Der Dritte Mann" (DAV, 3 CDs, 19,99 Euro). Auch ohne die legendäre Zithermelodie ist die Kriminalgeschichte in den Kriegsruinen Wiens ein Hörgenuss. Zischler klingt distinguiert und sonor, ein bisschen britisch, auch mit seinem Sinn für feine Unter­töne, was gut zur Erzählperspektive passt.

Eine Wiederentdeckung sind die Storys von Lucia Berlin, die in den Vereinigten Staaten inzwischen mit Raymond Carver in einem Atem genannt wird ("Was ich sonst noch verpasst habe", Osterwold, 6 CDs, 20,99 Euro). Lucia Berlin hat als Putzfrau, Aushilfslehrerin und in der Krankenhaus-Notaufnahme gearbeitet, um als alleinerziehende Mutter sich und ihre vier Söhne durchzubringen. Ihre Geschichten sind Bruchstücke einer autobiografischen Konfession, sie erzählen aus dem Leben unterprivilegierter Frauen, mit einem Reichtum an Unter- und Obertönen, der den Rahmen sozialer Rollenprosa sprengt. Berlins Heldinnen gehen nicht auf in der schma­len Rolle, die das Leben gerade mal wieder für sie vorgesehen hat, und sie helfen sich darüber hinweg mit einer Selbstironie, die Anna Thalbachs Lesung gut zum Ausdruck bringt.

Auf einen frischen, schlitzohrigen Naivitätston ist Jodie Alhborns Darbietung von Irmgard Keuns Roman "Kind aller Länder" (DAV, gelesen von Jodie Ahlborn, 4 CDs, 19,99) ­gestimmt. Das rastlose Emigrantenleben einer ständig von Geldsorgen geplagten Schriftstellerfamilie zu Zeiten des Na­tionalsozialismus wird aus der Perspektive der zehnjährigen Kully erzählt. Unsentimentale Neugier und kindlicher Scharfsinn ergeben einen interessanten Verfremdungsblick auf die ernsten Zeiten.

Eva Mattes schließt mit "Überredung" (Argon, 9 CDs, 34,99 Euro), dem letzten, herbstlich gestimmten Gesellschaftsroman Jane Austens, ihre verdienstvolle Reihe von Austen-Hörbüchern ab. Einmal mehr kommt einem die entrückte Welt des englischen Landadels um 1800 durch ihre ­ruhige, psychologisch eindringliche Lesart nahe.

Zum 400. Todestag von Miguel de Cervantes am 23. April gibt es zwei hörenswerte Lesungen des "Don Quixote". Die fünfzehnstündige NDR-Produktion aus dem Jahr 1984 bietet die klassische Übersetzung Ludwig Tiecks, gelesen von Hans Paetsch (Hörverlag, 1 MP3-CD, 20,95 Euro); Christian Brückner nimmt sich der Neuübersetzung des Romans von Susanne Lange an – ungekürzt in knapp 50 Stunden (Parlando, 4 MP3-CDs, 29,99 Euro). Brückner trifft die Vielfalt der Ton­register zwischen Ernst und Komik, Pathos und Parodie, auch wenn er nicht zu jenen Stimm-Akrobaten gehört, die noch jeder Nebenfigur eine möglichst eigenwillige akustische Maske überstülpen. Gerade deshalb kann man ihm so lange zuhören, seine Lesungen haben einen langen, starken Atem.

 Das gilt ganz besonders für "Moby-Dick" (Parlando, 2 MP3-CDs, 24,99 Euro), dieses Erzählwerk von grandioser Weitschweifigkeit, voller Walbiologie, Walfängersoziologie und Tranprodukteforschung. Kapitän Ahab führt seinen wahnwitzigen Kampf gegen die Achse des Bösen, die er auf den Namen Moby Dick getauft hat. Die Obsession versteckt sich lange hinter scheinbarer Vernunft – solche Hintergründigkeit ist Brückner-­Gebiet. Seine Stimme vermittelt Ahabs brütende kontemplative Energie, um dann schroff in einen rauhkehligen Befehls­ton von unbeirrbarer Entschlossenheit überzugehen; sie spiegelt die irre Begeisterung und ohnmächtige Wut des Alten. Kein Zweifel, mit dem hybriden "Gottesoppositionellen" hat Brückner seine große Rolle gefunden.

"Kleiner Mann – was nun?" ist das erfolgreichste Werk Hans Falladas, ein Zeitbildnis der niedergehenden Weimarer Republik. Nico Holonics und Laura Maire spielen im NDR-Hörspiel mit heller Herzhaftigkeit das junge Paar, das im Strudel der Weltwirtschaftskrise das Floß einer Kleinfamilie in ­ruhiges Wasser zu bringen versucht; sie finden überzeugende Töne für den Schlingerkurs aus Hoffnung und Desillusion, ­Lebensfreude und Alltagsverdruss, den Johannes Pinneberg und Emma Mörschel alias "Lämmchen" absolvieren (Hörspiel, Osterwold, 1 CD, 12 Euro). Die Lebenswelt der Angestellten in der Dauerkrise – das ist das Thema Falladas, der das Zeittypische mit leichter Hand in vielen skurrilen Neben­gestalten fixiert. Vorzügliche Sprecher wie Wolf-Dietrich Sprenger, Matthias Brandt oder Burghart Klaußner geben  auch diesen kleinen Rollen Präsenz und Gewicht. Dazu gibt es eine Komplettlesung der Neuausgabe des Romans mit Jutta Hoffmann, die erstmals ohne Glättungen und Kürzungen die Originalfassung des Romans nach Falladas Manuskript bietet (Aufbau Audio, 6 CDs, 22,90 Euro).

Berlinert wird auch in New York – zumindest in der alten Übersetzung von "Manhattan Transfer", die den Slang in den Dialogen des Großstadtromans von John Dos Passos auf diese kuriose Weise wiederzugeben suchte. In Kürze erscheint nun bei Rowohlt die überfällige Neuübersetzung von Dirk van Gunsteren, und dazu zeitgleich das auf ihrer Grundlage erarbeitete Hörspiel von SWR und DLF unter der Regie Leonard Koppelmanns (Hörbuch Hamburg, Mai, 5 CDs, 20,99 Euro). 50 Schauspieler für 100 Charaktere, die die Stadt verkörpern; Existenzen wie Scherben, in denen sich die Metropole spiegelt, ein aufwendig geflochtener Geschichtenteppich, den die opulente Inszenierung zum Fliegen bringen soll.

Nie zuvor ist die moderne Erfahrung der Großstadt so verstörend in deutscher Sprache geschildert worden wie in "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge". Rilke verarbeitet in dem Roman seine Jahre im Paris der Jahrhundertwende. Malte ist kein aktiver "Held", sondern ein verschreckter Flaneur und übersensibler Beobachter. Deshalb setzt das Hörspiel unter der Regie von Iris Drögekamp die Vorlage nicht theatralisch-szenisch um, sondern als musikalisch unterlegte Rezitation des Textes – mit der hellen, spröden Stimme Jens Harzers (Hörverlag, 2 CDs, 16,99 Euro). Eine gute Wahl, denn Harzer versteht sich auf die Untertöne und Gesten dieser Prosa, er weiß, wie man ein Ich liest, das seinen Erlebnissen ohne Schutzfilter ausgeliefert ist. Das 20. Jahrhundert wurde später als "Zeit­alter der Angst" bezeichnet; dieser Roman weiß bereits von der "Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der Luft". Grandios die minutiöse Betrachtung der übrig gebliebenen Wand eines abgerissenen Hauses, mit ihren Lebensspuren, Tapetenresten, Flecken und Abortröhren – ein Anblick, der Malte tief verschreckt als Sinnbild seiner eigenen Existenz und des Vergänglichkeitsstrudels, der alle Lebensformen erfasst. Dieses faszinierende Hörspiel hat einen Tiefensog, der besser ist als gewöhnliche Spannung.