Buchhandlungs-Porträt

Engagierte Pfadfinder

15. Mai 2017
von Börsenblatt
Bei Kieser in Schwetzingen kehrt ein, wer sich für das gedruckte Buch begeistert. Ob Krimi, Gedichtband oder literarische Preziose – die kundigen Mitarbeiter finden fast alles, auch Bücher, mit denen man kaum noch rechnet.    

An schönen Tagen kann das Auge die Sichtlinie zwischen der Kalmit im Südwesten, jenseits des Rheins, und dem Königsstuhl im Nordosten bewundern, die die kurpfälzischen Fürsten durch die Planung und Verwirklichung der berühmten Chaussee auf der Erde befestigten. Sie führte schnurgerade von Heidelberg nach Schwetzingen und war links und rechts von Maulbeerbäumen gesäumt. Die Planung zielte auf eine einheimische Seidenproduktion. Im 18. Jahrhundert war diese Allee daher fast so berühmt wie das Schwetzinger Schloss selbst, dessen Zentralachse in der Verlängerung der ehemaligen Chaussee liegt. Heute ist von der einst prunkvollen Allee nur noch der Stumpf der Carl-Theodor- und der Kurfüstenstraße übrig geblieben. Die Ausläufer der Schwetzinger Bahnhofsanlage durchschneiden rechtwinklig und brutal die historische Anlage.

Von der Heidelberger Altstadt gelangt man südwestlich übers Feld mit dem Fahrrad in einer knappen halben Stunde zum Schwetzinger Schloss. Dreihundert Meter vor dessen Hauptportal findet sich linker Hand eine Buchhandlung, die nicht nur wegen der Vorzüge ihrer Lage, sondern auch wegen der außerordentlichen Verbindlichkeit der beiden kundigen Buchhändler seit längerem Liebhaber des gedruckten Buches aus der ganzen Region an sich zieht. Das Geschäft führen die Brüder Cornelius und Christoph Kieser seit 1983. Der eine, Cornelius, ist mehr fürs Programm, der andere, Christoph, mehr für die Buchhaltung und die Organisation zuständig. Die beiden heimatverbundenen Büchernarren hatten eine solide Ausbildung hinter sich, als sie ihren Laden in der badischen Provinz eröffneten.

Wie die mittelalterlichen Klöster, streuen sich auch die guten Buchhandlungen in Neugründungen aus. Cornelius Kieser arbeitete nach seiner Lehre sechs Jahre in der berühmten „Frankfurter Bücherstube Schumann & Cobet“ am Rathenauplatz. Heinrich Cobet (1904–1994), einer der beiden Inhaber, war vermutlich die wichtigste Gestalt des deutschen Nachkriegsbuchhandels. Er wirkte nicht nur bei der Neugründung der Deutschen Bibliothek (heute Deutsche Nationalbibliothek) und der Wiederbelebung der Frankfurter Buchmesse maßgeblich mit. Auch die Idee, einen Friedenspreis des deutschen Buchhandels ins Leben zu rufen, geht auf ihn zurück.

Lebendiger Betrieb

Anders als die „Frankfurter Bücherstube“, die – seit 1988 im Besitz des Suhrkamp Verlags – 1995 unter anderem wegen der exorbitanten Ladenmieten geschlossen wurde, haben die Kiesers vernünftige Rahmenbedingungen für ihr Geschäft. Es geht freundschaftlich zu, die Vermieter sind mit den Buchhändlern seit langem befreundet – und neben der Kontinuität in der Bewirtschaftung der Fläche wird auch die Lebendigkeit des Betriebs hoch geschätzt, die mit der Buchhandlung Einzug hielt. Die Öffnungszeiten sprechen Bände und lassen mittlerweile wahrscheinlich auch die Bäckereien der Republik verschlafen aussehen. Wochentags öffnet die Buchhandlung um halb 9 und schließt um 19, samstags um 16 Uhr. Möglich wird das durch die Beschäftigung von fünf Vollzeit- und zwei Teilzeitangestellten, deren Expertise sowohl was neuere als auch bereits länger auf dem Markt befindliche Bücher anlangt, staunenswert ist. Man hat es hier mit im Vollsinn engagierten Personen zu tun, die mehr noch als Pfadfinder und sympathetische Mitleser denn als Verkäufer wirken.

Natürlich helfen die Schloss- und die Mozartfestspiele im Frühling und Herbst, Kunden in den Laden zu führen. Als ich jüngst in Wien den Leiter des Klangforums Wien traf, den es von Zeit zu Zeit auch nach Schwetzingen zieht, kam er, ohne äußere Veranlassung, sehr bald, schwärmend, auf die Buchhandlung Kieser zu sprechen. Die Welt der guten Buchhandlungen ist klein. Wo man Bücher finden kann, die man nicht gesucht hat, spricht sich schnell herum. Das Geschäft ist gleichwohl nicht von der Laufkundschaft abhängig. Wer außerhalb der Festspielsaison vorbeischaut, merkt, dass der gastfreundliche Laden auch sonst brummt.

Nicht das Internet, sondern persönliche Gespräche, direkt oder am Telefon, gliedern den Tagesablauf. Statt überall empfohlenem Facebook-Auftritt dominiert hier nach wie vor das mündliche Wort. 60 bis 80 Kundentelefonate am Tag seien – sagt Cornelius Kieser – keine Seltenheit. Das Einzugsgebiet der Buchhandlung ist groß, das Bedürfnis der Bücherliebhaber, mit klugen und gebildeten Menschen sich über den Gegenstand ihres Interesses austauschen zu können, ebenso.

Kollabierende Mythen

Unterhält man sich mit dem Buchhändler eingehender, relativiert sich nicht nur der beworbene Wahn, die Zukunft der Kundenkommunikation sei digital. Es kollabieren auch andere Mythen. So verkauft Kieser – wider die gängige Mär, Krimis seien bevorzugt Futter für elektronische ‚Lesegeräte‘ – eine bedeutende Menge Kriminalromane. Simon Beckett, Oliver Bottini, auch Volker Kutscher laufen das ganze Jahr über gut. Dasselbe gilt, trotz Internet-Konkurrenz, für Reiseführer und Karten, deren Angebot im Laden staunenswert ist.

Voraussetzung für die Kundenbindung hier wie dort ist allerdings, das betont Kieser, gründliche Lektüre und Recherchefreude auf seiten der Buchhandlung. Und dass auch schwer zu Besorgendes beigebracht wird. Sich-Kümmern ist ein Buchhandlungsexistenzial. Dabei ist der Laden, der einen Gutteil seines Umsatzes mit Taschenbüchern macht, durchaus nicht auf Massenmarkt ausgerichtet. Wie eine pièce de résistance steht im Laden auch das Trumm, genannt „Zettels Traum“, das Kieser von Zeit zu Zeit gleichsam als programmatisches Bekenntnis zum Buch auch in das große Schaufenster zur Carl-Theodor-Straße stellt. „Ich will solche Bücher einfach auch im Laden haben“, bekennt der Buchimpresario.

Und man muss nicht lange suchen, um in der Ecke, die die Literatur beherbergt, auch Eliots „Waste Land“, Pounds „Cantos“ und die Erzählungen und Essays von Borges zu finden. Selbst ein großer Büchner-Katalog aus dem Jahr 1987 fand sich dort noch. Über das Jahr hinweg werden solche anspruchsvolleren literarischen Gegenstände immer wieder einmal von Kunden gekauft, die, zunächst animiert und dann überzeugt von der optischen und haptischen Qualität, etwas mitnehmen, das nur auf sie gewartet zu haben schien – ohne dass sie zuvor davon wussten.

Die Philosophie-Abteilung ist so kundig zusammengestellt, dass sich die meisten Läden der benachbarten Universitätsstadt eine Scheibe davon abschneiden könnten. Buchhandlungen mit Anspruch, aber ohne ein Exemplar der „Kritik der reinen Vernunft“, der „Phänomenologie des Geistes“ oder von „Sein und Zeit“ im Regal, da ist sich Kieser sicher, werden auf Dauer auch ein Selbstbewusstseinsproblem bekommen. Die Lyrikabteilung – gängige BWL-Beratung von Buchhandlungen hält sie selbstverständlich für entbehrlich – umfasst mehr als hundert Bände, darunter auch Gedichte Yves Bonnefoys, John Donnes, H. C. Artmanns, Friederike Mayröckers und William Butler Yeats’. Das ist mutig – und zugleich klug. Gerade an dieser Abteilung zeigt sich, dass eine Buchhandlung nicht das „Geschäftsmodell“ eines Gemüseladens mit schnellem Warenumschlag haben muss. Das Zwitterwesen des Buches, zugleich Ware und Wert zu sein, wird dem Kunden sinnlich verstehbar gemacht. Die Ecke für Lyrik, sie ist ein besonderer Ort.

Der Schutz der Buchpreisbindung

Freilich, ohne den Schutz der Buchpreisbindung ginge das alles nicht, da ist sich Cornelius Kieser sicher. Die etwa hundert Exemplare, die er etwa bei Erscheinen eines neuen Dan Brown verkauft, und andere gut laufende Titel ermöglichen ihm, das Angebot seiner Buchhandlung so zu diversifizieren, dass auch ein Buch wie die Nachlassedition von Hermann Burgers Erstling „Lokalbericht“ (ein Text mit sehr witzigem Buchhändlerbezug) im Laden vorrätig sein kann. Beim Blick auf den britischen Buchmarkt fröstelt ihn. „Vom Verkaufserfolg von Harry Potter hat da keine Buchhandlung etwas gehabt.“ Zu gewaltig war der Unterbietungswettbewerb Amazons und der paar großen Ketten. Die gemischte Finanzierung, auf der Kiesers Laden ruht, ist in Ländern ohne Preisbindung strukturell abgeschafft. An den Bestsellern verdient dort niemand mehr etwas, und die Preise der etwas anspruchsvolleren Bücher sind gleichzeitig explodiert. „Wem soll das nützen?“ fragt Kieser rhetorisch und will sich gar nicht ausmalen, was passieren würde, wenn durch die strategischen Winkelzüge von Amazon und anderer auch in Deutschland die Buchpreisbindung fiele.
„Entlassungen wären dann der nächste Schritt. Unsere Möglichkeit, auch Ausgefallenes anzubieten, würde stark eingeschränkt.“

Junge Leser fördern

Ein Schreckensszenario nicht zuletzt für die Aktion seiner engagierten Mitarbeiter, die sich in Kooperation mit den Schulen vor Ort darum kümmern, Kinder an das Lesen von Büchern heranzuführen. Der Bedeutung dieser zentralen Aufgabe ist sich Kieser genau bewusst, und er schwärmt noch heute von den nicht nur kommerziellen, sondern vor allem von den lesepädagogischen Erfolgen, die die Harry-Potter-Nächte gebracht haben. „Wer weiß, wie es aussähe, wenn man diese Generation ganz ohne die Erfahrung des Bücherlesens dem Netz überlassen hätte!“

Als ich Cornelius Kieser vor der Rückfahrt nach Heidelberg die Hand drücke, geschieht das im Bewusstsein, hier einem bescheidenen, aber sehr bestimmten kulturellen Repräsentanten der Republik begegnet zu sein, dessen gelassenes Selbstbewusstsein vielleicht auch anderen, die im Buchhandel arbeiten und nach Konzepten in der Krise suchen, Mut und Energie spenden kann.
Auf die Lage, wohl wahr, kommt es an; freilich auch auf die Personen. Ich schwinge mich aufs Fahrrad, draußen ist die Luft klar, die Sichtlinie frei. Der Königstuhl ist ganz nah, die Kalmit, drüben, gut erkennbar.

Roland Reuß lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg und ist Vorstandsvorsitzender des Instituts für Textkritik.