Thriller-Novitäten

Du bist nie sicher

1. Juni 2017
von Sabine Schmidt
Von den verschneiten Alpen bis ins heiße Australien führen die Spuren der neuen Thriller – mit Zwischenstopps im schottischen Sauwetter und in venezianischen Palazzi. Nervenkitzel bieten alle, der Blutfaktor variiert. 

Wie hält es der Autor mit der berüchtigten Schlachtplatte? Das ist die Gretchenfrage bei jedem Thriller. Bei "Der Nebelmann" ist die Frage klar zu beantworten: Donato Carrisi kommt ohne aus. Er setzt sich mit einer zentralen Angst von Eltern auseinander – der Angst davor, dass ihr Kind verschwindet. In diesem Fall ist es eine Jugendliche, und es gibt keine Spur von ihr in dem Alpendorf, dessen Bewohner in einer christlichen, sektenähnlichen Gemeinschaft verbunden sind. In diese enge Welt kommt ein römischer Sonderermittler, ein eleganter Einzelgänger, der gern im Rampenlicht steht und mit den Medien spielt – und selbst in den Fall verwickelt zu sein scheint. Carrisi zieht seine Leser hinein in das Leben der schweigenden Dorfbewohner – und führt sein Buch zu einem sehr überraschenden Ende. Tenor: Man kann sich bei niemandem wirklich sicher sein, wie er denkt und was er tut. Dafür, dass der atmosphärische Winterthriller sich allein in Italien mehr als 100.000-mal verkauft hat, gibt es gute Gründe, denn er ist nicht nur spannend, sondern wirkt lange nach (Atrium, August, 352 S., 20 Euro).

Ein anderer Italiener deutet nicht nur an, wer der Täter sein könnte, sondern nimmt den Leser gleich mit zum nächsten Mord. Ermittler wissen von diesem Serienkiller, sind ihm aber noch nicht auf der Spur und geben ihm den Namen "Der Tourist", weil er überall in Europa tötet. Jetzt aber schießt er sich auf Venedig ein – und bekommt es mit Geheimdienstlern und einem Expolizisten zu tun, der wegen Korruption seinen Job verloren hat. Massimo Carlotto spielt mit dem Thriller- wie dem Agentengenre und lehnt sich mit seiner Geschichte an die Eleganz des Films "Der Tourist" mit Angelina Jolie und Johnny Depp an, auf den er sich ausdrücklich bezieht. Er fesselt jedoch mit einer ganz eigenen venezianischen Rätselgeschichte (Folio, August, 240 S., 20 Euro).

Die Österreicher Barbara und Christian Schiller präsentieren den Täter ebenfalls von Anfang an – und bestätigen bei Penguin, was sie schon als Selfpublishing-Autoren mit zwölf Titeln und mehr als einer Million verkaufter Bücher unter Beweis gestellt haben: Sie verstehen das Spannungshandwerk. Als B. C. Schiller lassen sie in "Targa. Der Moment, bevor du stirbst" einen Serienmörder los, den die Polizei bereits im Visier hat: einen hochmanipulativen Hochschuldozenten für Psychologie. Weil die Beweise gegen ihn nicht ausreichen, soll ihn die toughe und zugleich zerbrechliche Undercover-Ermittlerin Targa Hendricks überführen. Obwohl man den Täter von Anfang an kennt, entwickelt der Thriller einen enormen Sog – wenn man sich darauf einlassen möchte, einem grausamen, in Gewalt verliebten Psychopathen nahezukommen und ihm beim Töten über die Schulter zu blicken (Penguin, Juli, 400 S., 10 Euro).

In die verborgene Welt der Computergenies führt Andreas Brandhorst die Thrillerfans. Er entwickelt das Szenario einer globalen Cyberkatastrophe in einer nahen Zukunft. Sein Buch "Das Erwachen" ist nicht nur spannende Unterhaltung, sondern zugleich eindringliche Warnung vor den Schattenseiten des Internets, mehr noch: vor einer Machtübernahme der Maschinen. Entsprechend ernst stimmt er die Leser mit einem Zitat von Stephen Hawking aus dem Jahr 2014 auf die Geschichte ein: "Die Entwicklung echter künstlicher Intelligenz könnte das Ende der Menschheit bedeuten." (Piper, Oktober, 736 S., 16,99 Euro).

Der Berliner Autor Edgar Rai und die Medizinerin Kathrin Andres beschäftigen sich ebenfalls mit Zukunftstechnologien, auch wenn "M.I.A. Das Schneekind" mit alter Technik beginnt: Zwei Autos verunglücken auf vereister Straße in den Schweizer Bergen. Während die Heldin Sandra mit ein paar Kratzern davonkommt, stirbt der Fahrer des anderen Wagens, nur seine Tochter Mia überlebt. Mit dem Mädchen aber scheint etwas nicht zu stimmen, und Sandra kommt schließlich einem hochkriminellen Wissenschaftsunternehmen auf die Spur, das mit Gentechnik den menschlichen Körper optimieren will. In bewährter Thriller-Unterhaltungsmanier mischt Rai hier Spannung mit einem interessanten Thema (Rütten & Loening, August, 304 S., 12,99 Euro).

Aus dem Schweizer Winter geht es in den strömenden Regen Schottlands, in ein Sauwetter, das sich nur mit Tee und Whisky aushalten lässt. Atemberaubende Action gibt es dazu erst mal nicht: Stuart MacBrides Serienheld Sergeant Logan McRae findet in "Totenkalt" durchnässt, aber in Ruhe eine Leiche, ermittelt Schritt für Schritt mit den Kollegen, leistet solide Polizeiarbeit. MacBride fesselt seine Leser dennoch, vor allem mit seinem Helden, der jede Menge Probleme hat, nicht zuletzt, weil er in die Fänge von Kriminellen geraten ist, die ihn für ihre Zwecke benutzen wollen – und er keinen Schimmer hat, wie er sich ihnen entziehen kann. Erzählt wird das, passend zum schottischen Ambiente, mit derbem, grimmigem Humor (Goldmann, Juli, 640 S., 9,99 Euro).

Wie ihr Autorenkollege aus Schottland, gehört auch die US-Amerikanerin Karin Slaughter zu den überzeugenden Wiederholungstätern. Nach mehr als 35 Millionen verkauften Büchern wird sie ihre Fans auch mit ihrem neuen Thriller "Die gute Tochter" begeistern. Die müssen allerdings wieder hart im Nehmen sein. Denn der Leser ist hautnah dabei, wenn zwei maskierte Täter eine Mutter und ihre beiden Teenagertöchter in einem abgelegenen Farmhaus überfallen, die Frau erschießen und eines der Mädchen lebendig in dem Grab verscharren, das eigentlich für seinen Vater gedacht war: ein Anwalt, dem vorgeworfen wird, dass er Mörder und Vergewaltiger erfolgreich verteidigt und freiboxt (HarperCollins, August, 560 S., 19,99 Euro).

Zu einem Thriller-Highlight in Down Under geht es mit Candice Fox und ihrem trockenen Humor. In der Hauptrolle: exzentrische Typen im heißen australischen Sommer und zwei Ermittler, die vor der Tür stehen – der Ex-Cop Ted Conkaffey, von dem alle glauben, dass er ein 13-jähriges Mädchen entführt habe, auch wenn das Verfahren eingestellt wurde, und Amanda Pharrell, die wegen Mordes im Gefängnis war. Die beiden Außenseiter tun sich in der nordaustralischen Kleinstadt "Crimson Lake" als Privatdetektive zusammen und suchen nach einem berühmten Schriftsteller, der verschwunden ist. 

Conkaffey wird jedoch enttarnt, und eine Hexenjagd auf den vermeintlichen Vergewaltiger beginnt. Fox bietet das, was man von einem guten Thriller erwarten kann: beste Unterhaltung und gleichzeitig reichlich Stoff zum Nachdenken (Suhrkamp, Oktober, 380 S., 15,95 Euro).