Arnold Stadler über das Glück in Form von Buchläden

Der Himmel muss eine Buchhandlung sein

4. August 2017
von Börsenblatt
Der Schriftsteller Arnold Stadler ist schon in vielen, vielen Buchhandlungen gewesen. Sein Essay ist eine Liebeserklärung an alle engagierten Buchhandlungen – Orte, die die Welt braucht. 

Das Glück stellt sich für einen Menschen, der Leser ist, beim Lesen ein. Wenn er dann ein Buch zu Ende gelesen hat, ist er wie auf einem Nachhauseweg, und das glücklich gelesene Buch wird diesen Menschen von nun an in ein neues Leben begleiten.  

Ehrlich: Nicht jeder taugt für jedes Buch. Und es war – soll ich sagen: schon immer? – so, dass sich Bücher wie »Der Graf von Monte Christo« oder »Der Trompeter von Säckingen« besser verkauften als der »West-östliche Divan«; und zu meinen Zeiten waren »Salz auf unserer Haut« und »Der Name der Rose« größere Bestseller als »Zettel’s Traum«.  Und »Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Márquez fand mehr Leser als »Die Strudlhofstiege« Heimito von Doderers. Ich bin für beide Möglichkeiten. Das Schönste ist, dass Bücher gelesen werden, gekauft freilich auch. 

Sternstunden  Wenn ich an die Buchhandlungen meines Lebens als Schriftsteller denke, die ich alle mit Sternen versehen möchte wie im Michelin, und drei Sterne bedeuten, dass sich eine eigene Anreise lohnt, so erinnere ich mich daran, dass es wie eine Offenbarung war, als ich zum ersten Mal den Weltraum einer Buchhandlung betrat. 

  "Eine gute Buchhändlerin muss, bei aller Verkaufsfreude, immer auch Buchmissionarin sein."

Heute leben wir alle in einer Welt, deren Kennzeichen auch das unheimliche Verschwinden und Wenigerwerden des Buchs aus der sogenannten Öffentlichkeit ist. Dabei war und ist die öffentliche Vermittlung für etwas so Stilles und Einsames und Langsames wie das Lesen eines Buchs immer fast schon ein Paradox. Das Schöne daran ist aber, dass dem Lesen oftmals die Entdeckung in einem Schaufenster vorausgeht, und dem Blättern in einem der Bücher auf den Tischen das oftmals muntere, aufmunternde Gespräch im Umfeld der Ladenkasse einer Buchhandlung folgt.

Eine gute Buchhändlerin – und ebenso ein solcher Buchhändler, den ich meine – werden und müssen, bei aller Verkaufsfreude, aber immer auch Buchmissionare sein. Sie möchten, dass dieses und jenes Buch auf der ganzen Welt bekannt wird. Gerade solche Bücher, von denen man sagt, dass sie es schwerer haben, sind auf die Hilfe dieser unbezahlbaren (oftmals zumindest unterbezahlten) Missionarinnen und Missionare angewiesen. Sie werden die Frage: »Muss ich das lesen?« mit einem großen Ja!!! mit drei Ausrufungszeichen beantworten und wie Frau Fritsch-Weith vom Buchladen Bay­erischer Platz in Berlin auffordern: »Infizieren Sie Ihre Nachbarn!«

Verkauft und gelesen zu werden ist doch die schönste Möglichkeit, die ein Buch haben kann. Und dieses Joint Venture aus Schreiben und Verlegen, Verkaufen und Lesen ist die wahre Freude der Buchhändlerin. Denn der Buchhändlerin, die ich meine, wird es nicht egal sein, ob das Buch, das sie verkauft hat, gelesen wird oder nicht. 

Die Quetsche  Die sogenannte Globalisierung ist jener fortschreitende Prozess, an dessen Ende auch das Buch, wie wir es kennen und lieben, in der Globalisierungskelter zu verschwinden droht. Aber zum Glück finden wir hierzulande immer noch eine reiche Buchhandlungslandschaft, die auf der Welt ihresgleichen sucht.

  "Buchhändler sollten, wie auch Schriftsteller, Virtuosen im Psychologischen und an der Kasse sein."

Lange lebte ich in Freiburg. Wenn ich in die Stadt ging, waren die Höhepunkte das Münster und die Buchhandlungen – im Herzen der Stadt gab es eine Vielzahl davon. Das Schöne ist, dass es einige von ihnen immer noch gibt, so schön wie immer: die prachtvolle Buchhandlung zum Wetzstein. Sie wird nach dem Tod ihres Mannes Thomas von Susanne Bader weitergeführt. In die Buchhandlung Walthari kam ich damals fast jeden Tag, noch in Gertrud Pfisters Zeiten, der Gründerin. Die Begegnung mit ihr war, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, eine der unverwechselbarsten Buchhändlerinnenbegegnungen meines Lebens. Sie kam aus Ulm und sprach das Ulmer Württembergisch, mitten im badischen Epizentrum Freiburg; mit ihrer kratzenden Stimme, eine kleine, große Person, die vor keinem schönen Satz zurückschreckte. Und dann mit Gabriele Schröder über Gott und die Welt und die neuesten Erscheinungen – ja: Bücher waren Erscheinungen – die Zeit zu vergessen; und auch mit Susanne Plocher und Herrn Klaus Schuba. Ich kann mich erinnern, dass in jener Zeit oftmals nach »Beim nächsten Mann wird alles besser« von Eva Heller verlangt wurde, ein kalkuliertes Buch, das aber »Beim nächsten Mann wird alles anders« hieß, dem ­Erfolgstitel, der damals den Buchhandlungen sensationelle Spitzentitel-­Verkaufszahlen bescherte. Die armen Frauen waren nachher auch nicht schlauer, das Buch jedoch war gekauft und wurde gelesen oder nicht.

In meinem Jahr als Stadtschreiber von Bergen ging ich regelmäßig zu Monika Steinkopf. Die Berger Bücherstube gibt es zum Glück der Bergen-Enkheimer auch weiterhin. Doch A wie Atlantis in Regensburg und C wie Cordes in Kiel gibt es so leider nicht mehr. Zum Jahres­ende ist Atlantis zwar nicht untergegangen, aber Fred Strohmaier hat für immer abgesperrt. Er zählte und zählt die Schriftsteller zu seinen Freunden. Man konnte sie erleben bei ihm – von Thomas Bernhard bis Martin Walser. Die Atlantiszeit war eine glanzvolle, eine Sternstundenzeit für Schriftsteller und ihre Leser. Atlantis war ganz »literarisch«, was heutzutage, die Vielfalt und die notwendige Neuausrichtung am Netz- und Onlinepublikum bedenkend, ein einschränkendes Adjektiv ist.

Ohne das Wort Leidenschaft geht es in einer Buchhandlung nicht. Ein Beruf mit Berufung unter den Bedingungen von heute. Nur ein E-Book-Mensch ist auf eine solche Buchhandlung, die ich meine, nicht angewiesen. Er hat ohnehin den Durchblick und weiß, wie das geht. Dafür gibt es, was mich freut, auch heute nach wie vor solche Buchhandlungen, die ich meine. Und das Wort meinen kommt von minnen: RavensBuch von Margarete und Michael Riethmüller in Ravensburg. Oder Sibylle Steinwegs Buchladen in der Rainhof Scheune in Burg bei Kirchzarten, in der Nähe von Freiburg. Auch die Buchlandung Lesen am See in Überlingen fällt mir da ein und Prinz Eisenherz in Berlin. Schön auch, dass es in Pfullendorf nicht nur eine Kaserne, sondern auch die Linzgau-Buchhandlung gibt, welche den Leser auf dem Land mit entsprechenden Lebensmitteln versorgt.

Intimität  Der Kauf eines Buchs ist, wie die Buchhandlung selbst, zwar etwas Öffentliches, das Lesen jedoch das Allerpersönlichste, zwischen »dir und mir«, auf der Duz-Ebene, sozusagen. Und die Beziehung von Leser und Buchhändler ist auch eine besondere und andere als beim Discounter. Der Buchhändler wird seinen Leser kennen und das richtige Buch für ihn. So ist das jedenfalls bei der Buchhandlung, die ich meine. 

Lieblingsbuchhandlungen sind auch solche, die den Schriftsteller zu einer Lesung laden. Ich gehöre gewiss auch zu denen, die sich freuen, wenn die Buchhändler mein Buch verkaufen, und der Verlag freut sich auch, wir haben ja nicht zum Spaß geschrieben und gearbeitet.

Das Buch und der Leser, die meist eine Leserin ist: Diese zwei gehören zusammen. Sie sind im Idealfall zwei, die eins sind. Und dann die Buchhändler. Dann haben wir drei, die zusammengehören. Buchhändler sind so gesehen auch Musikalienhändler, Glücksvermittler, Seelsorgehelfer und noch viel mehr. Und Buchhandlungen sind Orte zum Verweilen, Orte der Langsamkeit. Ein Buch braucht Zeit. Und Lesen ist etwas Stilles, einsam Vertrautes und Vertrauliches.

Charakterstudie  Buchhändler sollten, wie auch Schriftsteller, Virtuosen im Psychologischen und an der Kasse sein: Im Idealfall können sie den Eindruck erwecken, dass sie das Buch, das sie verkaufen und aus dem der danebensitzende Schriftsteller gerade vielleicht gar nicht so gut, dass es die Zuhörerinnen mitriss, gelesen hat, am liebsten selbst geschrieben hätten. 

Auch ich habe einmal daran gedacht, auch noch eine Lehre als Buchhändler zu machen, das war nach der Zeit der »Unerträglichen Leichtigkeit des Seins«. Ich fragte mich also, ob, die herrliche Welt einer damaligen Buchhandlung vergegenwärtigend, das ein Beruf für mich wäre oder nicht. Aber ich sah ein, dass ich wohl nicht so virtuos wäre wie die Buchhändlerinnen und Buchhändler, die ich kannte, und auch den täglichen Stapeln nicht gewachsen und nicht so stark, um gegen die Zeit zu schwimmen und in diese sich globalisierende Welt »Moment mal!« oder »Wo sind wir denn?« hineinzurufen.

Summa: Was Gutenberg und die bis dahin handgeschriebenen Bücher dieser Welt verbindet, ist die Tatsache, dass es sich um etwas Einmaliges und Tatsächliches handelt, im Gegensatz zum E‑Book, in dem auch Wörter wie Buch, blättern und unterstreichen nur noch einen virtuellen, uneigentlichen Sinn haben. Manchen gefällt das sogar besser. Denn: Die Menschen und Leser sind nämlich verschieden. Darin gleichen sie sich vielleicht am meisten. 

Wie auch immer, ob E-Book oder Print: Buch und Leser werden im Idealfall in einer Welt verschwinden. Doch damit es so weit kommen kann, müssen sie sich aber finden. Das besorgt die Buchhandlung. Was für ein Glück es ist, in eine Buchhandlung gehen zu können und dann vielleicht sogar einen Kaffee zu bekommen, und die Buchhändlerin legt mir im Vorbeigehen ihre neueste Entdeckung auf mein Bistrotischchen. Dass ich einst dazu ein Zigarillo rauchen konnte, machte die Welt vielleicht noch schöner, als sie war. 

Und so ist es immer noch: Wenn ich über die Schwelle einer Buchhandlung gehe, dann ist für mich immer noch eine Art Glücksgefühl damit verbunden. Und immer noch ist es mein Traum oder auch nur ein schöner Gedanke, dass der Himmel eine Buchhandlung sein muss, wie schon damals, als ich noch dachte und träumte, dass der Himmel eine Buchhandlung war.

Arnold Stadler ist Schriftsteller und hat für sein Werk zahlreiche Literaturpreise erhalten, darunter 1999 den Georg-Büchner-Preis.