Bianca Seidel über Gender-Typografie

"Das Binnen-I ist schon veraltet"

26. Juni 2019
von Börsenblatt
Typografisch gendern? Bei der Anwendung und Umsetzung geschlechtersensibler Sprache geht es inzwischen eher um das wie, als um ob oder warum. Die Leipziger Gestalterin Bianca Seidel hat dem schwierigen Thema gerade eine Arbeit gewidmet.

"Geschlechtersensible Sprache", vulgo "gendern", ist gerade mächtig in der Diskussion, auch auf boersenblatt.net wurde zum Thema schon ausführlich gestritten. In Fachforen wie typografie.info wird beklagt, dass sich Typografinnen und Typografen eher zurückhalten, als mit lesbaren und ästhetisch vorzeigbaren eigenen Lösungsansätzen herüberzukommen. "Es ist etwas, wofür wir noch gar keine richtige Lösung haben", meint die Buchgestalterin und Autorin Judith Schalansky im Radio-Feature "Das Auge liest mit". Ein weites, ein schwieriges Feld. Nun hat die HTWK-Absolventin Bianca Seidel eine Arbeit zum Thema vorgelegt: "Überzeugender Gestalten" diskutiert anhand vieler Beispiele, ob und wie sich Gestaltung und Typografie in die Verbesserung geschlechtersensibler Sprache einbringen können. boersenblatt.net hat sich in Leipzig mit Bianca Seidel zum Interview getroffen.     

Was hat sie an dem Thema gereizt?
Man kann das sogar ziemlich konkret erklären. Ich habe mit einer Freundin darüber diskutiert, dass der Verlag H. Schmidt (Mainz) in seinen Social Media-Kanälen statt eines Gender-Sterns ein Plus-Zeichen verwendet. Meine erste Reaktion war: Das kann man doch nicht machen, nur weil’s vielleicht besser ausschaut! Gender-Stern oder -Gap sind ja symbolisch, politisch extrem aufgeladen. Das hat einen längeren Prozess des Nachdenkens ausgelöst: Wieso nimmt nur die Germanistik dieses Thema auseinander, warum passiert kaum etwas aus der Gestaltung heraus? 

Haben Sie eine Erklärung dafür?
Design und Typografie beschränken sich oft darauf, die intendierten Botschaften mit den geeigneten gestalterischen Mitteln möglichst wirkungsvoll zu kommunizieren. Sie arbeiten meist mit Texten, die von den Autor*innen und aus den Lektoraten kommen. Wer die Texte schreibt und redigiert, entscheidet, wie gegendert wird. Um hier auf Augenhöhe mitreden zu können, braucht es typografisches Fachwissen, aber auch ein Bewusstsein für die Anforderungen geschlechtersensibler Sprache. Ich denke, junge, nachwachsende Gestalter*innen würden da auch anpacken, wenn man ihnen die Möglichkeit lässt.

Wie können sich Typografinnen und Typografen einbringen?
Sie sind die idealen Problemlöser*innen, das gehört schon mal zur DNA des Berufs. Mit ihrem Wissen um Typografie und Lesbarkeit können sie also durchaus eine Beratungsfunktion gegenüber den Schreibenden einnehmen. Dazu hat Design sehr viel mit Empathie, Zuhören, Sichtbarmachen zu tun. Kreative sin in der Lage, gewohnte Denkmuster zu durchbrechen und Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Sie können Brücken bauen zwischen Gender-Befürworter*innen, diversen Fachwissenschaften und der Typografie. All das kann in dem Themenbereich wahnsinnig nützlich sein − es wird allerdings noch nicht so wirklich gesehen und abgefordert. 

Wo liegen, aus typografischer Sicht, die Schwachstellen bislang favorisierter Gender-Lösungen?
Das Binnen-I ist typografisch kein großes Problem, für mich persönlich allerdings jetzt schon veraltet, weil nur Frauen und Männer angesprochen werden. Die Gender-Gap ist einerseits interessant, weil man damit ein Feld öffnet, sie kann aber zum Stolperstein für den Lesefluss werden. Bei Unterstreichungen oder Links wird der Unterstrich zudem verdeckt, auch nicht gerade ideal. Mit dem Gender-Stern, der als Platzhalter für weitere mögliche Geschlechter als ziemlich angesagt gilt, schafft man ebenfalls eine Lücke im Wort. Ich würde ihn jedoch mit Abstand favorisieren.  

Wenn wir bei Gender-Gap und Gender-Stern bleiben: Welche typografischen Verbesserungen finden Sie praktikabel?
Es würde in beiden Fällen darum gehen, den entstehenden Weißraum zu verkleinern. Bei der Gender-Gap kann ich den Unterstrich zum Beispiel horizontal verkleinern, wobei ich natürlich auch die Symbolik "stauche". Wer den Unterstrich stark verkleinert, verkleinert den ohnehin geringen Raum, der Geschlechter-Identitäten jenseits der binären Ordnung zugestanden wird. Schwierig. Dazu kommt, dass es deutlich komplexer wird, sobald man den Bereich der Print-Typografie ins Digitale verlässt. Auch den Gender-Stern kann ich verkleinern, oder man kann ihn auf die x-Höhe, die Höhe der Kleinbuchstaben setzen. In den Büchern "Untenrum frei" und "Die letzten Tage des Patriarchats" von Margarete Stokowski hat Rowohlt den Asterisken genau so angepasst. Das fügt sich optisch sehr gut ein. 

Im letzten Teil Ihrer Arbeit widmen Sie sich der Entwicklung neuer Konzepte. Welche finden Sie spannend?
Ich habe sehr vieles ausprobiert; ich glaube, am liebsten mag ich die Ligatur, nicht zuletzt, weil sie sehr viel offen lässt. Ihr Vorteil ist, dass sich innerhalb des Wortes keine Lücke, die die Störung der Fixation zur Folge haben könnte, ergibt. Die Zeichen der Ligatur fügen sich deutlich besser in ein Wort ein als ein Asterisk, weil sie den Formen der Buchstaben folgen. Das Konzept ist allerdings nicht selbsterklärend – wer es nicht kennt, wird die Worte nur sehr schlecht lesen können.

Das gedrehte, "spanische" Fragezeichen fand ich auch nicht uninteressant…
In der Theorie klappt das ganz gut, funktioniert aber nicht mit jeder Schrift. 

Ist in Ihrem Arbeitsumfeld ein Bewusstsein für solche Probleme vorhanden?
Da muss man unterscheiden: Gendern an sich ist ja eine sehr persönliche Frage, jeder hat seine eigene Meinung. Wenn es darum geht, die gegenderte Sprache zu gestalten, würde die Typografie das, glaube ich, sehr gerne machen. Mikrotypografie ist Detailarbeit, und wer setzt oder typografisch gestaltet, mag Details. Man sollte aufhören, darüber zu diskutieren ob man gendert. Es sollte eigentlich common sense sein, dass man gendert − und man sollte anfangen, sich zu überlegen, wie man das macht, so dass alle damit glücklich werden: Die Menschen, die mit geschlechtersensibler Sprache sichtbar gemacht werden sollen, die Germanistik und die Typografie. Dass ich meine Arbeit bei zwei Männern im − wie sagt man? − mittleren Alter geschrieben habe, die das cool fanden und sich beide dafür interessiert haben, macht ja Mut.

Bianca Seidel, Jahrgang 1995 und aufgewachsen in Bayern, legte an der FOSBOS Weiden/Oberpfalz ihr Fachabitur mit gestalterischer Ausbildung ab. 2015 wurde sie an der HTWK Leipzig im Studiengang Buch- und Medienproduktion immatrikuliert. Trotz eines Praxissemesters im Münchner Carl Hanser Verlag zog es sie nicht in die klassische Verlagsherstellung. Seit November 2018 arbeitet Bianca Seidel als Designerin am Leipziger Standort der Digitalagentur Appsfactory. Die von Christian Ide und Alexander Grossmann betreute Arbeit "Überzeugender Gestalten. Wie Typografie und Gestaltung bei der Suche nach neuen Strategien für geschlechtersensible Sprache mitwirken können" entstand am Fachbereich Typografie des Studiengangs Buch- und Medienproduktion der HTWK.