Mein Lockdown-Tagebuch (1): Constanze Kleis über ein unwirkliches Lebensgefühl

"Als wäre unser Realitätssinn ein lustloser Schüler, der exzessiv herumtrödelt"

22. März 2020
von Börsenblatt
Constanze Kleis kennt die tägliche Klausur: Sie ist freie Autorin. Trotzdem hat der kollektive Hausarrest auch ihren Alltag verändert. Sie versucht, eher mehr als weniger Geld auszugeben. Ihr Mann hat gerade den Kühlschrank geputzt. Und ihr Asthma könnte endlich mal nützlich sein. Teil eins unserer "Lockdown-Tagebücher", die als ganz persönliche Krisenbegleiter gedacht sind - geschrieben von Büchermenschen.

Wenn ich aus dem Fenster meines Arbeitszimmers schaue, blicke ich direkt auf einen Supermarkt. Es werden praktisch täglich mehr Menschen, die dort ausgestattet mit Mundschutz und Einweghandschuhen prall gefüllte Einkaufstaschen nach draußen tragen. Das fühlt sich ganz ähnlich an, wie damals, als ich das erste Mal nach New York reiste: total unwirklich. Als wäre man in einem jener Filme gestrandet, aus denen man diese Kulisse fast in und auswendig kennt. Weil die Bilder immer schon vorher da waren. Weil das Bewusstsein dafür, dass das jetzt wirklich passiert, so laaaaangsaaaam den Ereignissen hinterherschlappt, als wäre die Corona-Krise ein Klassenausflug und unser Realitätssinn ein lustloser Schüler, der exzessiv herumtrödelt in der irrigen Hoffnung, dass diese Zumutung sich dadurch verkürzt.

Ich habe Glück im Unglück: Um die Ecke ist ein Park, in dem ich weiter werde joggen können. Unsere Wohnung hat einen Balkon und ausreichend Platz für bloß zwei Menschen. Und ich arbeite ohnehin meist zuhause und das gerade an einem neuen Buch, an Beiträgen für Magazine, die – noch – erscheinen. Theoretisch gibt es da also keine Umstellungsprobleme.

Praktisch bin ich oft unterwegs gewesen. Aus beruflichen Gründen, aber auch, um die tägliche Klausur ein wenig abzumildern. Ich ging häufig aus, ins Kino, manchmal ins Theater, viel in Restaurants und Kneipen. Und allein, dass ich das in der Vergangenheitsform schreibe, ist schon ziemlich erschreckend. Ähnlich, wie die Erfahrung, die Nähe von engen Freunden meiden zu müssen, als würde man sofort zu Staub zerfallen, wenn man sie berührt. Aber man sieht sich ja auch nicht mehr, außer auf facebook.

"Wir werden endlich erfahren, ob wir eine Indoor- oder eine Outdoor-Beziehung haben"

Stattdessen sitze ich mit meinem Mann auf dem Sofa. Und wir werden endlich erfahren, ob wir eine Indoor- oder eine Outdoor-Beziehung haben. Also eine, die auch gut in Heimarbeit erledigt werden kann oder eher eine, die erst rund läuft, wenn man sich auch mal aus dem Weg geht. Es ist das erste Mal seit wir uns kennen, dass wir nun tagelang beieinanderhocken. Das könnte spannend werden. Allerdings ist es noch deutlich zu früh, um auch nur von Zwischenergebnissen zu sprechen. Wir sind ja erst in Woche eins nach Corona – wenn man es genau nimmt. Oder wie eine Freundin es heute formulierte: "Schon verrückt, wie plötzlich alle so tun, als hätten wir schon seit Monaten Hausarrest."

Sie findet es "bemerkenswert", wie sich mit dem Virus das Vollbild "Corona-Drama-Queen" ausbreitet. Wie Menschen seit Tag eins der Einschränkungen glückskekstaugliche Sätze in die sozialen Medien einspeisten. Solche wie "Jetzt kommen wir vielleicht endlich einmal dazu, wieder Briefe zu schreiben!" oder "Nutzen wir die Chance uns gerade auf die Ferne wieder näher zu sein!" Waren die nie mal ein, zwei Tage einfach so mal daheim? Haben die noch nie länger als zwei Stunden Zeit mit sich verbracht? Offenbar nicht.

"Wer kann, der sollte jetzt dringend mit vollen Händen Geld ausgeben."

Natürlich sind das Luxus-Probleme. Auch das erfährt man nun.  Die kleine Boutique, in der ich so gern einkaufe, das Cafe, in dem ich mich praktisch jeden Samstag mit Freundinnen treffe, der Gitarrenlehrer meines Mannes, mein Akkordeonlehrer – sie alle haben von jetzt auf gleich kein Ein- und damit kein Auskommen mehr.

Ich merke, wie das ein weiteres Corona-Symptom in die Welt bringt: Überforderung. Wenn ich allein durchzähle, wie viele der Läden, Lokale, Dienstleister, die ich regelmäßig nutze, betroffen sind, stockt mir der Atem. Trotzdem: gerade weil man derzeit und noch eine sehr lange Weile nicht shoppen, Konzerte oder Lesungen besuchen kann, sollte man dringend Geld ausgeben. Wenn man nur irgend kann, mit vollen Händen.

Ich habe meine Buchvorräte gerade per Mail bei "Gut gegen Nordwind" in Sprendlingen ein wenig aufgestockt. Wie viele andere kleine Buchhändler bietet man auch dort einen Lieferservice an, der dringend genutzt gehört. Meine Schwester, die in Stuttgart lebt, schreibt, dass sie sich vom Restaurant gegenüber beliefern lassen - mit Leckereien von der Speisekarte. Eine Freundin erzählt am Telefon, sie habe sich vom Blumenhändler ihres Vertrauens gerade einen herrlichen Frühlingsstrauß liefern lassen.  

"Auch das erfordert die aktuelle Lage: Vorstellungskraft."

Ja, das muss man sich leisten können. Und das sollte man auch, wenn man es kann. Aber sehr viele, sind davon ausgeschlossen. Auch das fordert die aktuelle Lage: Vorstellungskraft. Wenigstens zu erahnen, wie es ist, mit viel zu vielen Menschen auf sehr engem Raum zu sitzen oder überhaupt niemand zu haben, mit dem man sich wenigstens um die Fernbedienung streiten kann.

Andere sollen ihr verordnetes Home-Office nun mit der Bespielung von Kindern vereinbaren und fast alle sorgen sich wie ich, um ihre betagten Eltern. Des Virus bevorzugte Zielgruppe. Ich diskutiere mit meinem Vater, ob er noch zum Friseur gehen und seinen Termin dort wahrnehmen kann. Ich sage: "Nein". Er sagt: "Auf jeden Fall!". 

Als wäre ich die Erziehungsberechtigte und er das Kind, höre ich mich sagen: "Wenn du schon nicht an dich denkst, dann wenigstens an mich!" Ich habe Asthma und hoffe, das könnte jetzt mal nützlich sein. Aber er will Corona partout mit neuem Haarschnitt trotzen.

Ich lese oft, dass man jetzt klatschen soll ab 21 Uhr, um sich bei all denen zu bedanken, die sich gerade jetzt auch hochoffiziell als die tragenden Säulen unserer Gesellschaft erweisen. Bei Busfahrern, Krankenschwestern, Ärzten, Verkäuferinnen. Das ist schön. Seltsam ist, dass ich fast nichts darüber erfahre, wie unser Gesundheitssystem vorher schon über der Belastungsgrenze war. Wie es und zunehmend privatisiert und kaputtgespart, noch vor kurzem 50.000 Schwestern und Pfleger entlassen hat.

Und kaum noch jemand spricht davon, was gerade auf Lesbos passiert, ohne jedwede Möglichkeit auf "social distancing" in den auch ohne Corona brutal katastrophalen Zuständen. Ja, die Lage ist ernst und das Leben jetzt schon ganz anders als noch vor einer Woche.

"Braucht man für den Supermarkt bald eine Nahkampfausbildung?"

Allein, dass in dem Neubaugebiet abends nun praktisch jedes Fenster erleuchtet ist, weil alle daheim bleiben, habe ich noch nie erlebt. Aber auch nicht die beängstigende Kleinlichkeit, die das Virus an den Tag bringt. Vor zwei Tagen habe ich von einer Bekannten gehört, die sich beim Einkauf nur mal kurz umdrehte und noch aus den Augenwinkeln sah, wie sich eine Kundin ihr Toilettenpapier aus dem Einkaufswagen angelte. "Das ist meins!", sagte sie empört. Und die andere: "Jetzt nicht mehr!"

Wird man also bald eine Nahkampfausbildung brauchen, wenn man in den Supermarkt geht? Auf der anderen Seite bin ich auch erstaunt, wie schnell und professionell sich in Frankfurt Gruppen organisiert haben, die für jene einkaufen, den Hund Gassi führen wollen, die schon erkrankt sind oder zur Hochrisikogruppe gehören.

Und: Mein Mann hat gerade den Kühlschrank geputzt und seine Hemden selbst gebügelt. Ja, es gibt auch gute Nachrichten und damit Hoffnung, dass wir das hier irgendwie doch leidlich mit Anstand über die Bühne bringen. Allerdings sollten wir dringend darauf achten, dass unsere Vorräte daran nicht ebenso schwinden wie die an Atemschutzmasken und Desinfektionsmitteln und wir unser Zusammenleben  – wenigstens für eine Weile – auch auf Fernwärme umstellen können.

Constanze Kleis ist freie Autorin und Journalistin. Sie schreibt Kolumnen für Magazine – und Bestseller mit Susanne Fröhlich. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.