Ehrengast Türkei

Ein anatolischer Herbst

23. September 2008
Redaktion Börsenblatt
Die Türkei ist Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Heute erscheint das BÖRSENBLATT Spezial Buchmesse mit Porträts und Stimmen türkischer Verleger, Buchhändler und Autoren. Über 100 Titel sind in diesem Jahr aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt worden. Ein Haus, das seit langem türkische Autoren verlegt ist der Zürcher Unionsverlag. Carlo Bernasconi hat mit dem Verleger Lucien Leitess gesprochen und stellt die Türkische Bibliothek vor.
Am Anfang war das Wort. Jenes von Yasar Kemal, aufgeschrieben in den Memed-Romanen (die im Herbst als Kassette erscheinen). Auf diesen Grandseigneur der türkischen Literatur – gleich alt schon wie das von Kemal Atatürk neu gegründete Land – ist Unions-Verleger Lucien Leitess schon in den Siebzigerjahren aufmerksam geworden. Kemals Bücher wurden in linken literarischen Kreisen leidenschaftlich debattiert, auch weil wie auf das Schicksal jener Türken hinwiesen, die ihr Land in Richtung Deutschland verlassen mussten, um für ihre anatolischen Familien zu sorgen. Literaturnobelpreisträger Günter Grass hatte das gleiche Leseerlebnis – anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1997 an Ya?ar Kemal sagte er: «Sonst vielgereist, bin ich nie in Anatolien gewesen, und dennoch habe ich mir als Leser von Buch zu Buch Ihr Land angeeignet. Was fremd war, ist mit allen Gerüchen vertraut und bis in die Nöte der landlosen Bauern einsichtig geworden. Wörter können das. Die Literatur hebt Entfernungen auf. Literarische Landnahme bringt uns Menschen nah, die nur auf Papier stehen. Sie macht unwegsame Einöden und schroff ragende Adlerfelsen begehbar. Sie ruft uns, angesichts der Not unterdrückter Bauern, die einst das eigene Land knechtende Leibeigenschaft in Erinnerung. Sie hebt auf Landkarten gezogene, aber auch unser Bewusstsein schneidende Grenzen auf. Die Literatur schlägt die Brücke zum anderen, zum fremdgegangenen Ich. Sie verkuppelt uns. Sie macht uns zu Mittätern. Die Literatur zieht uns in Mitleidenschaft.» Nichts Weniger schwebt Leitess und der für die Türkische Bibliothek an der Zürcher Rieterstrasse zuständigen Lektorin Alice Grünfelder vor. 2005, als die Robert Bosch Stiftung dem Unionsverlag den Zuschlag zur Realisierung der Türkischen Bibliothek erteilte, war noch keine Rede von einem Türkei-Schwerpunkt der Buchmesse – dennoch nehmen sie diesen schlagartig die literarische Aufmerksamkeit generierenden Anlass gerne entgegen. Mittlerweile sind zwei Drittel der auf 20 Bände geplanten Reihe erschienen (ein Band mit «Kultgedichten» wird rechtzeitig zur Messe fertig), der Überblick über die türkische Literatur ist demnach ein solider – und an der ursprünglichen Konzeption haben die Herausgeber Erika Glassen und Jens Peter Laut keine Korrekturen vorgenommen, im Gegenteil: «Schwierig war das Weglassen, nicht das Suchen», sagt Leitess. Und Alice Grünfelder ist zufrieden, dass die Türkische Bibliothek das erreicht hat, was auch ihr vorgeschwebt hat: «Sie hat Impulse gegeben in dem Sinne, dass andere Verlage einzelne von den insgesamt 70 Autorinnen und Autoren (mit den Anthologien zusammengerechnet) für sich entdeckt haben.» Mehr noch als diese klassische, mit einem Gastlandauftritt verbundene temporäre Ausdehnung eines literarischen Interesses schätzt Grünfelder den Rückkoppelungseffekt: Durch die Übersetzung ins Deutsche haben viele Autoren in der Türkei neues Ansehen gewonnen, wie beispielsweise Hasan Ali Toptas, dessen Roman «Die Schattenlosen» nun anders rezipiert wird. Und zudem strahlen diese Autoren aus der Türkei wieder aus in andere, nicht deutschsprachige Länder. Grünfelder: «Die Türkische Bibliothek hat damit eine europäische Strahlkraft erreicht.» Was von Anfang an beabsichtigt gewesen und auch Grundlage der Eingabe an die Robert Bosch Stiftung gewesen war: Der Unionsverlag wollte den Schwerpunkt auch auf die Vermarktung der Bücher legen. Zu Recht. Kein Vorbericht auf Frankfurt kommt ohne Hinweis auf die Bibliothek und ohne Autorinnen und Autoren dieser Edition aus – angefangen von der Interview-Serie auf dem TV-Sender 3sat bis zu zahlreichen Presseberichten. Leitess hat eine nachvollziehbare Begründung für diese Aufmerksamkeit: «Es gibt einen Nachholbedarf in Sachen türkischer Literatur. Ihr Reichtum ist vergleichbar mit jenem der italienischen im 20. Jahrhundert – und darüber wusste man bis vor kurzem nur wenig.» Leitess ist auch glücklich darüber, dass die Auswahl der Autorinnen und Autoren für die Präsenz an der Buchmesse vom PEN und dem türkischen Schriftsteller-Verband vorgenommen worden ist. «Der Länderschwerpunkt ist ausgezeichnet vorbereitet worden», sagt er und meint damit auch dieses: Politische Einflussnahme gab es nicht. Die Probleme der Demokraten und Kulturschaffenden im Land selbst können in Frankfurt also offen zur Sprache kommen. Zudem ist nun auch eine kulturelle Dichte zu entdecken, die einmalig ist: «Die Türkei ist ein Land mit 27 Nationalitäten. Ein Eldorado für eine vitale Kulturszene.» Leitess weist dabei auf Yasar Kemals neuen Roman («Die Hähne des Morgenrots») hin, dessen Spektrum von der Gegenwart Istanbuls bis zu den mesopotamischen Mythen reicht - «also eine Hochkultur, die um Jahrtausende älter ist als unsere mitteleuropäische.» Insgesamt 70 Lesungen werden im Zusammenhang mit dem Gastlandauftritt von türkischen Autorinnen und Autoren aus der Türkischen Bibliothek bestritten. Das ist viel. Entsprechend hat der Verlag insgesamt drei verschiedene Pakete für den Buchhandel geschnürt – ein kleines mit Novitäten, Hardcover und Taschenbücher, ein grosses mit entsprechend mehr Volumina sowie ein Taschenbuch-Paket. Diese hätten sich, so der Verleger, gleichermassen gut in den Handel verkauft: An die 800 Pakete seien geordert worden, sagt Leitess. 2010, wenn die Türkische Bibliothek abgeschlossen sein wird, dürfte der Unionsverlag auch dank seiner kontinuierlichen Aufbauarbeit mittlerweile der Verlag sein mit dem grössten Angebot an türkischer Literatur östlich des Bosporus – und das soll so bleiben, denn die wichtigsten Bücher der Türkischen Bibliothek, von denen die Hälfte bislang eine zweite Auflage erlebt haben, werden bei Unionsverlag im Taschenbuch weiterhin lieferbar bleiben. Bücher, die jene «Mitleidenschaft» anstreben, vor der Günter Grass bewundernd in der Paulskirche den Hut gezogen hat.