Meinung

Wagen 10, Platz 33?

25. September 2008
Redaktion Börsenblatt
Vom Vergessen - Rainer Moritz über Schillers Balladen und die Krux mit der Bundesbahn.
Er stand auf seines Daches Zinnen, / Er schaute mit vergnügten Sinnen / Auf das beherrschte Samos hin ...« – so setzt, alle literaturhistorisch bewanderten Buchhändler wissen es, Friedrich Schillers berühmte Ballade »Der Ring des Polykrates« ein, und obwohl diese recht viele Strophen umfasst, hatte ich – lang, lang ist es her – kein Problem damit, die Schiller’schen Verse im Deutschunterricht vor versammelter Klasse aufzusagen, par cœur, wie die Franzosen sagen. Heute muss ich eingestehen, dass mir außer den Auftaktzeilen kaum etwas von Polykrates und seinen Problemen in Erinnerung geblieben ist. Ja, wenn man mich nötigte, spontan deutsche Gedichte, von Eichendorff bis Rühmkorf, zu rezitieren, müsste ich kläglich passen. Allenfalls zu Matthias Claudius’ »Abendlied« oder Heinz Erhardts »Der Kabeljau« würde es vielleicht reichen – eine Bilanz, die mich unglücklich macht und mir ein kulturelles Minderwertigkeitsgefühl beschert. Warum um alles in der Welt merken sich manche Menschen so viel, und warum haben andere schon Schwierigkeiten, die Herren Steinbrück und Steinmeier auseinanderzuhalten? Sieht man vom Auswendig-Aufsagen deutscher Lyrik ab, kann ich mir recht viel merken. Ohne zu zögern, spule ich herunter, mit welchen Spielern der TSV 1860 München 1965/66 Fußballmeister wurde, wann literaturwissenschaftliche Klassiker wie Eberhard Lämmerts »Bauformen des Erzählens« oder Franz Stanzels »Die typischen Erzählsituationen im Roman« erschienen sind, wer »Wie kommt das Salz ins Meer« schrieb, mit welchem Lied Séverine den Grand Prix Eurovision de la Chanson gewann, wie Ben Cartwrights Söhne hießen und wann der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gegründet wurde. Zudem vergesse ich niemals Mutters Geburtstag und die Abgabefrist für meine Kolumnen. Umso rätselhafter ist es mir deshalb, warum ich in einer bestimmten Lebenssituation stets aufs Neue versage, mindestens dreimal im Monat. Sobald ich in Richtung Bahnhof strebe, um mich, mit reichlich Lektüre bestückt, auf eine Zugfahrt zu freuen, greife ich zu meiner Platzreservierung und versuche mir Wagen- und Platznummer einzuprägen. Zufrieden lehne ich mich sodann in den U-Bahn- oder Taxisitz zurück ... und stelle wenige Minuten später fest, dass ich mir die Ziffernfolge doch nicht merken konnte. Wieder krame ich in meiner Tasche und baue mir Eselsbrücken (bilden die Zahlen nicht ein markantes historisches Datum wie »1789« oder »1066«?), die mich vor der Blamage des Vergessens bewahren sollen. Es nützt nichts. Noch auf dem Bahngleis komme ich um einen Kontrollblick nicht herum; manchmal entfällt mir die Platznummer in letzter Minuten erneut, kaum dass ich den richtigen Wagen betreten habe. Welcher Neurologe, welcher Gehirnforscher erklärt mir dieses Phänomen, von dem – das weiß ich aus Befragungen im Bekanntenkreis – nicht nur ich betroffen bin? Warum ist das menschliche Gedächtnis nicht darauf geeicht, sich eine läppische drei- oder vierstellige Nummer zu merken? Hat das mit Hartmut Mehdorn zu tun? Oder gibt es am Ende einen tieferen Zusammenhang mit Schillers Balladenwerk? Warum sitzt Rainer Moritz immer im falschen Wagen?