Meinung

Datei ohne Charme und Schauwert

2. Oktober 2008
Redaktion Börsenblatt
Die Bildschirm-Lekture hat entscheidende Nachteile, meint Wolfgang Schneider. Zum Beispiel sei nicht nur Buch ja nicht nur zum Lesen da. »Zugleich ist es eine intellektuelle Visitenkarte«, so Schneider in seinem Plädoyer für das gedruckte Buch.
In Martin Walsers Novelle »Ein fliehendes Pferd« erinnert sich Helmut Halm an ein großes Buch seiner Jugend. Nietzsche habe er gelesen, und zwar – »Snob, der er war« – in französischer Übersetzung: »Ainsi parlait Zarathustra«. Diese kleine Imponiergebärde war offenbar nicht unwichtig für die Lektüre. Zeigen, was man liest: Darauf kommt es an, und diese Idee steht mit ihrer Antriebsenergie auch hinter der Kulturgeschichte des Bücherregals. Denn ein Buch ist eben mehr als ein Text. Aber hätte Halm auch in der Epoche des E-Books die französische Übersetzung gelesen? Wohl kaum, denn das E-Book treibt dem Werk nicht nur die haptischen Qualitäten und den Eselsohren-Charme, sondern auch den Signal-Charakter aus. Es ist bloß noch eine Datei ohne Schauwert, falls nicht bald eine Leuchtschrift entwickelt wird, die rund ums Gerät wandert und signalisiert: Hier liest jemand »Ainsi parlait Zarathustra«. Respekt! Wenn sich nun Grabesstimmung unter Buchhändlern ausbreitet, weil der Tod ihrer papierenen Ware mit dem angekündigten Siegeszug des E-Books ein weiteres Mal beschlossene Sache scheint, wird dies leicht vergessen: Ein Buch ist nicht nur zum Lesen da! Zugleich ist es eine intellektuelle Visitenkarte; und nicht wenige Druckwerke finden ihre Erfüllung bereits als repräsentative Verschenkware, etwa die Mahnbücher lebender Politiker und deren wahlkampfbegleitende Biografien. Kein Mensch liest so was. Eine E-Book-Lieferung würde hier den Zweck der Sache verfehlen. Die Sichtbarkeit des Buches ist aber auch für den Lektüreakt selbst entscheidend. Wer möchte »Krieg und Frieden« als Endlosdatei lesen? Nein, zur befriedigenden Bewältigung solcher Romane gehört unbedingt ein Lesezeichen, das allmählich einen dicken, gebundenen Papierstapel durchwandert: anschauliches Äquivalent der geistigen Aneignung. Als Vergleichsmenetekel in der E-Book-Diskussion gilt der iPod, der die Musikindustrie in die Krise getrieben hat. Aber erstens sind junge Pop-Hörer naturgemäß empfänglicher für Innovationen der Unterhaltungselektronik und ihre Distinktionswerte. Und zweitens macht ein iPod mit 1000 Songs ja auch Sinn als Begleitmedium. Aber wozu soll man 1000 Romane in komprimierter Form mit sich herumtragen, wenn man nicht gerade Lektor von Beruf, Jurymitglied beim Deutschen Buchpreis oder Literaturfreak auf Weltreise ist? Natürlich hat das E-Book Vorzüge. Die Schrift lässt sich beliebig vergrößern, was bei Lesern ab 45 den Kaufanreiz sehr erhöhen dürfte. Auch die Lektüre beim Essen wird erleichtert – endlich ist Schluss mit der frustrierenden Erfahrung, dass die Buchseite wieder zurückschnellt, sobald man zur Gabel greift. Und kein Zweifel, all jenen Lesern, denen es wirklich allein auf den Text ankommt, wird das E-Book willkommen sein: den Menschen, die rasch ein informierendes Sachbuch zu Rate ziehen möchten, oder den heute bereits auf dem Hörbuchmarkt sehr downloadfreudigen Konsumenten der Schmökerware: Krimi-Süchtige, Liebesromanzen-Aficionados, Fantasy-Fans ... Zugegeben, das sind ziemlich viele. Wenn die Verlage all diese Kostbarkeiten bereitwillig zur elektronischen Verfügung stellen (was ja längst keine ausgemachte Sache ist) – dann haben die Buchhändler Grund zur E-Book-Panik. Dann bleiben ihnen vielleicht nur noch Bildbände, Kochbücher und die Politikerbiografien zum Verschenken. Und natürlich die Nischen der Hochliteratur, wo Bücher seit je mehr sind als Texte ...