Kaum eine andere Stadt hat so viel zu berichten wie das einstige Byzantion, später Konstantinopel: Wir reden vom heutigen Istanbul, einer Weltstadt, dessen Bewohner nicht selten mit dem Spagat zwischen Tradition und Moderne zu kämpfen haben. Über 20 Kurzgeschichten, Auszüge und Gedichte wurden u.a. von den Herausgebern aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt. So erlebt der Leser die revoltierende Jugendliche Neriman, die sich lauthals bei ihrem Vater beschwert: »Ich hasse alles Alte, ich möchte das Neue und Schöne [
].« Der Vater währenddessen sieht die Probleme im Wandel der Zeit und damit den Kampf Alt gegen Neu. Die Leute hätten sich verändert und ihre »Kleider abgelegt«, neben dem Gewohntem seien nun auch »neue und extreme Passagen« nach Europa gezogen worden. Gemeint sind »West«-Begriffe, wie Switch oder Smoke und das Aufeinanderprallen verschiedener Welten. Der Abgrenzungskampf zwischen Ost und West ist nur eines der Themen, mit dem sich viele der Protagonisten auseinandersetzen.
Doch auch die schillernde Vielfalt Istanbuls wird beleuchtet. In dem Gedicht »Die Kinder Istanbuls«, wird diese Vielschichtigkeit mit einem Regenbogen gleichgesetzt wenn auch mit kritischem Unterton: Es geht um Kinder auf der einen Seite, die »goldene Armreifen« tragen und nur Schokolade essen, sowie Kinder auf der anderen Seite, die sich noch nicht einmal Schuhe leisten können.
Das Stadtbild wird von Gegensätzlichkeit geprägt. Die Inhalte erzählen von der Entwicklung einer Stadt, in der strenggläubige Muslime neben vielbeschäftigten Bankern, Altstadtgassen neben Wolkenkratzern, oder alt hergebrachtes Handwerk neben florierenden Neugeschäften existieren. Dörflichkeit trifft auf Urbanität. Dass dabei auch Konflikte entstehen ist nachvollziehbar doch wie geht Istanbul damit um? Antworten liefern die Texte, die meisten stammen aus den Federn von türkischen Autoren, die in Istanbul leben oder ihr Leben dort verbracht haben. Diese vermitteln auch einen besonderen Blick, sozusagen von innen heraus, auf das spezielle Flair und die besondere Atmosphäre, die Istanbul zu bieten hat. Das gelingt mit Gedichten wie »Ich höre Istanbul« oder »Aprikosen« auf eine sehr authentische Weise ohne Kitsch und Klischees. Hier wird die »schöne Seele« der Stadt veranschaulicht, der Leser findet sich plötzlich in bunten Basaren wieder. Zwischen frischen Blumen, Krabben und Hummern, rauchenden Kohlebecken und gelben Mandelkernen: Jeder Geruch und jede Sinneswahrnehmung kann nachempfunden werden.
Alles in allem eignet sich diese sorgfältig ausgewählte Zusammenstellung bestens als Einstimmungslektüre zur Frankfurter Buchmesse nicht zuletzt wegen des handlichen Formates und des schicken Halbleinen-Einbands. Kurz: Ein charmanter Rundum-Blick und gelungenes Porträt des türkischen Wirtschafts- und Kulturzentrums, eben ein Reiseführer der besonderen Art.
Elise Mischke
Börte Sagaster / Manfred Heinfeldner (Hrsg.): »Istanbul Eine literarische Einladung.« Wagenbach, 137 Seiten, 15,90 Euro
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