Meinung

Hilfe, ein Klassiker!

9. Oktober 2008
Redaktion Börsenblatt
Warum es sich lohnt, manches neu zu lesen. Eine Schwärmerei von Jochen Jung.
as man in der U-Bahn so hört – ich kürzlich diesen knappen Dialog: »Hast du den ersten ›Matrix‹-Film gesehen?« – »Nein, hab ich nicht.« – »Aber das musst du, das ist ein Klassiker.« Nicht alles wird so schnell einer, dafür aber hält sich manches erstaunlich lange. Es muss nicht gleich die »Odyssee« sein – die Sache mit den Nibelungen zum Beispiel ist ja auch schon ganz schön alt. Muss man die »Odyssee« kennen? »Matrix?« »Die Nibelungen«? Es ist an Ihnen, zu entscheiden, was Sie lesen, und wenn Sie an der »richtigen« Stelle sitzen, allerdings auch, was andere lesen: Ihre Kinder zum Beispiel. Oder die Kinder anderer Leute. Muss man Mozart gehört haben? Leonardo gesehen? Venedig? Und selbst wenn man müsste, wann sollte man? Am Wochenende, hat Gott beschlossen, ruhe der Mensch sich aus. Und wenn er sich noch etwas vornimmt, kommt er gerade mal zu H?&?M. Und am Abend zum neuen Italie­ner um die Ecke links, zu dem man nun wirklich muss, haben alle gesagt. Und in den Ferien gibt es vor allem ein Muss: ausspannen und ein bisschen trinken. Und wenn schon lesen, dann – na ja, muss ich Ihnen ja nicht sagen. Trotzdem. Vielleicht gibt es ja ein anderes Wort dafür, das nicht so abstoßend klingt wie: Klassiker. Oldies, but Goodies? Saurier? Perpetuum nobile? Wahrscheinlich müsste man überhaupt erst mal darüber nachdenken, was denn das Eklige an Klassikern ist. Ganz schlicht ihr Alter? Der Bildungsgeruch? Das Pflichtmäßige? Ist Klassikerlesen so wie das erste Zusammentreffen mit den Schwiegereltern der Tochter? Ist es einfach Schulzeug, das jeder endlich hinter sich haben möchte? Ist es Feuilleton Seite 3, durch das man durchblättern muss, um zu Wirtschaft und Sport zu kommen, und wo wollte man sonst wohl hin? Egal. Ich bin kein Bildungspolitiker. Kein Schulrat. Keiner von denen, die für die, die noch Kanons singen, Kanons erstellen. Ich bin nur Leser. Der Grund, dass ich mich jetzt und hier melde, ist tatsächlich kein anderer als der, dass ich gerade etwas gelesen habe, von dem ich unbedingt möchte, dass das auf der Stelle ganz, ganz viele lesen, und das Buch, das ich meine, ist sage und schreibe »Der Schimmelreiter«. Von Theodor Storm. Du lieber Gott, werden Sie denken, wer heißt denn heute noch Theodor? Und überhaupt: Das hab ich doch in der Schule gelesen. Nein, sage ich da, das haben Sie eben nicht. Denn was in der Schule Pflichtlektüre war, das haben Sie nicht gelesen, das haben Sie vielmehr in der Pause vor der Deutschstunde überflogen oder sich von den Strebern erzählen lassen oder im Romanführer nachgelesen oder, wenn Sie jung genug sind, im Netz. Lesen, so wie man lesen sollte, das wussten Sie damals schon, geht anders. »Der Schimmelreiter« also. Ich hab ihn auch nur in der Pause gelesen, damals, aber vor Tagen war was ausgerechnet in Bayern alpha darüber, blöd an sich, aber ich dachte, ich schau mal. Und les es schon zum zweiten Mal. Es ist hinreißend. Die Geschichte von einem, der so menschlich verrückt ist, dass man das für Augenblicke selbst gern wär, plötzlich merkt man das. Und es bricht einem das Herz – und, seien wir ehrlich: Wozu sonst ist das Herz des Lesers da? Welches Buch haben Sie noch einmal und dann »richtig« gelesen?