Die Buchhändler von heute müssen sich nicht nur permanent und in rasantem Tempo mit Neuerungen und deren Konsequenzen auseinandersetzen. Sie sind zusätzlich dem spätmodernen Zeitgeist unterworfen, der eine Besonderheit des Wandels umschließt. Konnte Schiller noch sagen: »Das Neue kommt, das Alte muss gehen«, heißt es heute: »Das Neue kommt hinzu, das Alte bleibt.«
Dieser Paradigmenwechsel in Gesellschaft und Kultur wird von den Einzelnen meist nicht in aller Konsequenz wahrgenommen. Wenn Neues auf den Markt drängt, reagieren deshalb viele mit Ängsten und rufen Parolen aus wie »das Ende des gedruckten Buches«. Daran aber glauben Experten gerade nicht, auch wenn es große Verunsicherungen und Umstellungen geben wird, wie immer wieder in all den Jahrhunderten der Geschichte des Buches.
Der Slogan einer Veranstaltung von Amazon auf der vergangenen Buchmesse: »Vom Physischen zum Digitalen«, mit dem der neue Kindle vorgestellt wurde, mutet daher eher unmodern an. Denn er berücksichtigt nicht die gegenwärtige Vielfalt und Unterschiedlichkeit auf allen Märkten, sondern versucht, diese auf ein zu begehrendes Objekt hin zu reduzieren.
Heute geht es in der Lesewelt aber eher um ein spannendes und unberechenbar konkurrierendes Nebeneinander von Physischem und Digitalem was die Lage für den Buchhändler nicht gerade übersichtlicher, sondern ziemlich komplex gestaltet. Eine wichtige neue Fähigkeit wird daher jetzt von den Sortimentern vermehrt gefordert: das Ertragen von Ambivalenzen. Eine Forderung der Zeit, die ihre Zeitkrankheit gleich mitliefert: Unentschiedenheit ist der meistbeklagte Zustand. Der Bestseller zum Zustand war 2006 Benjamin Kunkels »Unentschlossen«. Die Aufgabe des Sortimenters 2008 ist es, die Ambivalenz zwischen physischem und digitalem Buch als Treibstoff zu nutzen.
Heute ist ein Charakteristikum des Neuen, das sich neben das Alte drängt, der unverzichtbare Erlebniswert. Angefangen hat diese Bewegung 1975 in der Architektur (mit dem Begriff der »Postmoderne«). Nicht nur die Funktion, sondern das Erlebnis der Menschen in den Räumen musste plötzlich beim Bau von Museen berücksichtigt werden. Beim Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main, um nur ein Beispiel zu nennen, beschreiben die Besucher an erster Stelle, wie sie sich dort fühlen: »Ich kann von jeder Etage aus sowohl nach draußen als auch im Museum selbst nach oben und unten schauen.«
Was für den Leser von Büchern in Zukunft entscheidend sein wird, das können wir heute nicht voraussehen oder gar lenken. Für den einen wird es ein großes Erlebnis sein, die neuen Techniken zu nutzen, in Onlinebuchhandlungen blättern zu können. Für andere Leser ist das gedruckte Buch mit seiner physischen Verfügbarkeit, dem Papier, seinem Geruch, unverzichtbar.
Hieß die Kampfansage der Moderne: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ist das Friedensangebot der Postmoderne: Freiheit durch Vielfalt, Unterschiedlichkeit und Toleranz.
Das heißt, dass sowohl die herkömmlichen wie die elektronischen Bücher ihren Raum bekommen werden.
Bedrohung oder Chance wie empfinden Sie die neue Vielfalt?