Meinung

Die Bestseller-Ente

6. November 2008
von Börsenblatt
Im Reich der Listen. Der Ranking-Wahn führt zu bizarren Ergebnissen. Eine tiefschürfende Ermittlung bei Amazon – von Rainer Moritz.
Wenn ich von der Frankfurter Buchmesse zurückkehre, falle ich alljährlich in ein tiefes Sinnloch. Wie weiterleben ohne Empfänge, Smalltalk und Gutscheine für den Oetker-Stand? Die Zeit bis zur Leipziger Messe scheint viel zu lang, und so bin ich gezwungen, mich gewaltsam von meinen Melancholieschüben abzulenken. Am besten klappt das, wenn ich die Seiten des Internethändlers Amazon besuche (bei dem ich natürlich nur CDs oder DVDs kaufe). Dort hat man seit Langem begriffen, dass die medial eingenebelten, tendenziell überforderten Menschen nicht immer in der Lage sind, ­eigene Urteile zu treffen, und stattdessen lieber das erstehen, was alle erstehen. Folglich generiert man im Hause Amazon permanent neue Verkaufslisten, die nach interessanten Untergruppen gegliedert sind, und so auch Büchern, die nicht von Uwe Tellkamp, Charlotte Roche oder Sebastian Fitzek geschrieben sind, Bestseller­nimbus verleihen. Diese Rubriken heißen dann »Krimis & Thriller«, »Biografien & Erinnerungen« oder »Sex-Ratgeber«. Nicht immer freilich ist diesen Ranking-Versuchen zu trauen, denn auch bei Amazon regiert, so steht zu vermuten, ein strenger Controller, der die Personalkosten in Schach hält und verhindert, dass die vielen Hitparadenlisten in seinem Haus manuell erstellt werden. Doch wo folglich – ein schöner Trost – der Computer automatisch waltet, entsteht nicht selten blühender Unsinn, der mich aufs Schönste aus meiner Nachmessedepression reißt. Beispiele gefällig? Im Klartext-Verlag erschien vor Kurzem ein verdienstvolles Buch über den unvergessenen Fußballer Willi Lippens, dessen Tricks einst Heerscharen von Bundesligaverteidigern in die Verzweiflung trieben. Wie Kenner wissen, trug das durch seine spezielle Geh- und Lauftechnik auffallende Essener Urgestein den Spitznamen »Ente«, weshalb das ihm gewidmete Werk den Untertitel »Der Fußballer Willi ›Ente‹ Lippens« trägt. Eine verhängnisvolle Verlagsentscheidung, die den Amazon-Computer heillos überfordert. Denn plötzlich rangieren diese Erinnerungen nicht nur auf der Hitliste der Sportlerbiografien, sondern auch unter den Top 10 der Kategorie »Hühner, Enten & Gänse« – umgeben von so wertvollen Ratgebern wie »Holländische Zwerghühner« oder »Ente, Gans & Co. Praxis der Wassergeflügelhaltung«. Nicht viel besser ergeht es dem Goldmann-Buch »Der Knochenleser. Der Gründer der legendären Body Farm erzählt«, das jene berühmte, sich mit dem Zerfall des menschlichen Körpers befassende Einrichtung in den USA vorstellt. Dass diese Darlegung kriminalistischer Ermittlungstechniken gegenwärtig auf Platz 1 der Rubrik »Rechtsmedizin« firmiert, erstaunt mich wenig. Warum sich das Werk jedoch überdies auf den vorderen Rängen der Unterabteilung »Musik & Instrumente / Gitarre« findet und gegen Titel wie »Improvisation für Gitarre« und »Das ultimative Know-How für Bassisten« ankämpft, erschloss sich mir erst nach einem Blick auf die Verfassernamen: Bill Bass heißt einer der beiden »Knochenleser«-Autoren, und schon verstehen wir, wie es zu dieser Amazon-Platzierung kommen konnte. Ab sofort freue mich auf die nächste Messe.