Kritik, so meinte einst Niklas Luhmann, brauche man heute nur noch in der Müllabfuhr und in der Metaphysik. Ein Befund, der vor allem darauf abhebt, dass die Kulturindustrie längst alle Bereiche des kulturellen Lebens durchdrungen hat und einigermaßen lückenlos beherrscht: Einschalt-Quoten, Besucher-Rekorde, Bestseller-Listen Verbraucher-Indices, die mehr und mehr zum Gradmesser kultureller Qualität werden. Wenn es der klassischen Literaturkritik im Vergleich mit anderen Kultursparten noch recht kommod geht, mag dies an der vitalen Vielfalt und relativen Kleinteiligkeit des Buchmarkts liegen - und daran, dass hier, anders als beim Film und in der Bildenden Kunst, immer noch viel weniger Geld auf dem Spiel steht. Gemessen an den Klagen und den auf sie niederprasselnden Vorwürden dürfte es allerdings auch die Literaturkritik längst nicht mehr geben: Sie leide, so hört man fast gebetsmühlenhaft, an selbstverschuldetem Bedeutungsverlust, an der immer höher steigenden Bücherflut, an der Konkurrenz aus dem Netz. Wahr ist allerdings auch: Das Lamento belebt das Geschäft. Totgesagte leben länger.
Facettenreich zu besichtigen war dies Mitte der Woche in Leipzig. Nach der groß angelegten Münchner Tagung "Literaturkritik und literarische Öffentlichkeit im europäischen Vergleich vom letzten November hatten das Kuratorium Haus des Buches und das Kulturradio MDR Figaro ein gutes Dutzend Literaturredakteure aus Hörfunk-, Fernseh- und Zeitungsredaktionen sowie Autoren und Büchermacher eingeladen, nun der deutschsprachigen Literaturkritik den Puls zu fühlen. Vor allem deren fest bestallten Protagonisten las die scheidende "Literaturen-Herausgeberin Sigrid Löffler in ihrem angriffslustig "In der Radauzone betitelten Eröffnungsvortrag die Leviten. Nicht wenige Kritker selbst seien es, die ihre Unabhängigkeit beschädigten und so an Glaubwürdigkeit beim Lesepublikum verlören: Durch mangelnde Urteilskraft, Meinungs-Kartelle, Kumpanei mit Autoren, Willfährigkeit gegenüber der Gängelung durch die Verlage und die Vergötzung des Markterfolgs kurz, einen "embedded journalism, den Löffler nicht nur im Irak-Krieg, sondern ebenso in den "killing fields des hiesigen Rezensions-Betriebs ausmacht. Starker Tobak. Löfflers Nachsatz, sie sei "auch selbst Teil des Systems wirkte da wie die salvatorische Klausel im Kleingedruckten. Auch die Büchermacher blieben in Löfflers Rundumschlag nicht ungeschoren: In Zeiten, da Fußballer, Showgrößen und Politiker Lesen als "volkspädagogisch wertvoll beschwören, zögen nicht wenige von ihnen "Fernseh-Lobhudelei einem streitbaren Korrektiv vor, gingen "der Kritik allmählich von der Fahne.
Wie kritisch ist der Zustand unserer kritischen Organe? Hat der "Service-Journalismus auf ganzer Front gesiegt? Mutiert die Literaturkritik zur "Skandal-Agentur? Vier Round tables war es vorbehalten, die Löfflersche Suada, die freilich auch viele der über Literaturkritik und -kritiker in Umlauf befindlichen Klischees bemühte, zu relativieren. Mag die Rezensions-Landschaft im deutschsprachigen Raum, gerade mit Blick ins Ausland, noch immer sehr breit und vielfältig sein es wird künftig nicht reichen, mit einem (selbst-)beruhigenden "Literaturkritik wird es immer geben (Ulrich Greiner) zum Tagesgeschäft zurückzukehren. Dessen ökonomische Basis versteht sich nicht von selbst. Die Produktionsbedingungen ändern sich derzeit radikal; Feuilletonredakteure leben nicht im luftleeren Raum. Von schrumpfendem Anzeigen-Aufkommen und der Demokratisierung des kritischen Geschäfts im Internet sind sie unmittelbar betroffen. Projekte wie der FAZ-Lesesaal oder die neue "Zeit Literatur sind Versuche, auf das gewandelte Medienverhalten der Leser zu reagieren auch jenseits des Königsformats Rezension. "Kritik ist nicht die einzige Form, mit Literatur umzugehen, meinte Kerr-Preisträger Burkhard Müller mit Blick aufs oft gescholtene Fernsehen. "Man sollte nicht zu herablassend auf die Peripherie herunterschauen. Die ist vielleicht flach aber eben auch breit.
Im aktuellen BÖRSENBLATT lesen Sie ein ausführliches Interview mit der Literaturkritikerin Sigrid Löffler.
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Am 23. November, 15 bis 16.30 Uhr, strahlt MDR Figaro unter dem Titel "Sagt mir, was ich lesen soll! die Aufzeichnung des Abschluss-Round tables des "Dialogs über Literaturkritik aus. Gäste sind Sigrid Löffler, die Autoren Katja Oskamp und Josef Haslinger sowie der Literaturkritiker Martin Lüdke. Die Sendung ist auch als Audio-Stream via Internet zu empfangen.