Auszeichnung

"Die Wahrheit hat viele Schattierungen"

25. November 2008
Redaktion Börsenblatt
David Grossman ist gestern in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet worden. Im Interview mit boersenblatt.net spricht der Autor über Politik und Literatur, den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern – und sein Verhältnis zu Deutschland.
Wie wichtig ist für Sie der Geschwister-Scholl-Preis? Grossman: Der Preis ist sehr wichtig für mich. Als ich erfuhr, dass ich mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet werde, dachte ich daran, dass ich in meiner Jugend die Geschichte der Scholls gelesen habe. Damals wie heute bewegt es mich, dass es tatsächlich diese Art von Widerstand gegen das Nazi-Regime gegeben hat. Man muss sich ja diese riesengroße Propagandamaschinerie der Nazis vor Augen führen. Das war doch eine hundertprozentige Gehirnwäsche! Und dass es unter diesen Bedingungen Menschen gab, die ganz offiziell Widerstand leisteten, ist unglaublich. Ihr nun preisgekröntes Buch "Die Kraft zur Korrektur" ist kein politischer Roman, sondern eine Sammlung von Essays, in denen Politik und Literatur gleichermaßen zur Sprache kommen. Wie wichtig ist es Ihnen, sowohl ein intellektueller Schriftsteller als auch ein politischer Kopf zu sein? Grossman: Also ganz allgemein: Eine solche Verbindung ist nicht zwingend. Man kann ein großer Intellektueller und ein sehr guter Schriftsteller sein, aber zugleich kann einen das politische Geschehen völlig unberührt lassen. Die erste Aufgabe eines Schriftstellers ist es, ein gute und interessante Story zu schreiben. Es gibt aber Autoren, und zu denen zähle ich mich, die das was um sie herum passiert, sehr genau wahrnehmen. In meinem Fall ist es natürlich die politische Lage Israels. Und dabei folge ich meiner eigenen Wahrnehmung, misstraue den Formulierungen von Politkern, der Armee oder der Medien. Ich bin in dieses Geschehen ganz und gar involviert, weil ich nicht akzeptieren kann, wie Leute, die Macht haben, unsere Zukunft verspielen und die mediale Öffentlichkeit mit Parolen verpesten. Nicht nur Schriftsteller wissen eines: Es gibt viele Blickwinkel, unter denen man eine Sache betrachten kann. Daher haben nicht nur die Israelis die Wahrheit gepachtet, sondern auch die Palästinenser haben in vielem Recht. Jeder erzählt seine Geschichte vom eigenen Standpunkt aus. Solange man aber nur von seinem eigenen Alpträumen, von seiner eigenen Angst und von seiner eigenen Gerechtigkeit erzählt und die andere Seite völlig ausblendet, bleibt man ein Gefangener seiner eigenen Vorstellungen. Seit Ihrem ersten Roman "Das Lächeln des Lammes" beschäftigen Sie sich immer wieder mit dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Ist dies eine Art "Leitmotiv" für Ihr Schreiben? Grossman: Weniger ein Leitmotiv als ein "Leidmotiv", würde ich sagen. Ich schreibe ja immer über das Leben, über die Wirklichkeit in Israel. Und diese reale Welt handelt zumeist von Krieg, vom permanenten Ausnahmezustand, vom Fehlen einer positiven Zukunftsvision. All diese Dinge sind in Israel ständig präsent, in der Art wie unsere Kinder aufwachsen, wie die Gewalt niemals endet und wie wir damit im alltäglichen Leben umgehen müssen. Ich kann das als Autor einfach nicht ignorieren, weil wir in diesen Konflikt so viel Energie, Kreativität und Emotionalität investieren. Aber natürlich habe ich auch über ganz andere Dinge geschrieben: Liebe und Eifersucht etwa. Das sind Gott sei Dank auch Realitäten in Israel. Das andere Leitmotiv in Ihren Werken könnte man als das Denken der Shoa bezeichnen. Es geht nicht um eine Beschreibung oder ähnliches, sondern um die Präsenz der Shoa, um etwas, das man sich weiterhin vor Augen halten sollte... Grossman: Wenn man einmal Opfer war, dann bleibt man es auch. Diese Art von Trauma kann man eigentlich nicht zum Verschwinden bringen. Jeder lebende Jude ist sozusagen eine "Brieftaube" der Shoa. Manchmal wird mir diese ganze Last der Vergangenheit zu viel. Am Vormittag kam ich mit dem Flugzeug nach München. Ich sah dabei all die Wiesen und Felder mit Schnee bedeckt. Und mein allererster Gedanke war, dass einst Menschen ohne Schuhwerk, mit bloßen Füßen auf diesem Schnee bedeckten Boden haben gehen müssen. So ist das. Ich möchte aber den Deutschen gerne etwas sagen: Niemand sollte sich heute schuldig fühlen an dem, was in der Nazi-Zeit passiert ist. Das Denken oder das Bedenken der Shoa meint, sich selbst als ein Jude oder Deutscher zu fühlen und für sich zu klären, wie man sich damals verhalten hätte. So etwas kann meiner Meinung sehr lehrreich sein, für uns alle. Hans und Sophie Scholl, alle Mitglieder der "Weißen Rose" waren äußerst couragierte junge Leute. Wie engagieren sich heute junge Menschen in Israel und Palästina, um die Friedenspolitk voranzutreiben? Grossman: Die Zeiten, in denen Hans und Sophie Scholl agierten, war eine sehr extreme Zeit, kaum vergleichbar mit einer anderen. Im heutigen Israel denken viele junge Menschen gemäßigt konservativ. Jeder weiß, dass man etwas ändern sollte. Die Frage ist nur wie? Die Widerstandsgruppe der "Weißen Rose" wusste genau, was wahr und falsch war. Das ist heute nicht ganz so einfach. Klar, man müsste die besetzten Gebiete zurückgeben. Aber was ist mit dem Terror, unter dem Israel permanent leidet? Das heißt, die Wahrheit hat so viele Schattierungen, so dass man sehr leicht eine Entschuldigung findet, gar nichts zu tun. Und eines darf man nicht vergessen: Junge Israelis und Palästinenser sind in diese grauenvolle Realität hineingeboren worden. Sie kennen gar nichts anderes! Möglicherweise denken sie, dass es gar keine Weg mehr gibt, diese Situation zu ändern. Und das ist schrecklich. Wenn man Ihre Essays und Ihre Interviews liest, so hat man den Eindruck, dass Sie es nicht ungern sehen würden, wenn sich deutsche Politiker an dem politischen Prozess zwischen Israel und Palästina stärker beteiligten. Aber würde man das in Israel überhaupt so akzeptieren? Grossman: Es gibt einen Hauptakteur und der ist natürlich die USA. Trotzdem gibt es andere Länder und Politiker, die sehr wohl als Vermittler agieren können. Deutschland gehört ohne Zweifel dazu, weil es über gute Verbindungen sowohl zu Israel als auch zu den Palästinensern verfügt. Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen: Ein Teil der moralischen Verantwortung für die Shoa wurde früher von der Bundesrepublik mit finanziellen Mitteln getätigt. Heute läge meiner Meinung nach die Verantwortung Deutschlands darin, eine aktive Rolle in diesem Konflikt zu übernehmen und mit allen Beteiligten gemeinsam einen Weg aus dieser schrecklichen Situation zu finden. Und ich denke, dass ich nicht übertreibe, wenn ich sage, dass Israel in das heutige Deutschland großes Vertrauen setzt, in Deutschland einen Verbündeten sieht.