Ein Gespräch mit Michael Krüger

»Am liebsten ein Renaissancefürst«

4. Dezember 2008
von Börsenblatt
Hanser-Verleger Michael Krüger über Bergwerksmenschen, schlechte Bücher, die Suche nach einen Nachfolger und über den Baum vor seinem Fenster.
Sie werden am 9. Dezember 65. Feiern Sie das? Hier im Verlag gibt es eine kleine Feier. Mir ist das nicht lebenswichtig. Es wird so wahnsinnig viel in dieser Welt gefeiert, praktisch ununterbrochen. Das hätte man doch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht für möglich gehalten. Im nächsten Jahr wird das wohl etwas abschmelzen, weil die Leute weniger Geld haben und denken, dass es übertrieben war. Aber dass die Gesellschaft überhaupt so eine Feierlaune entwickelt hat, das ist erstaunlich, das ist ja auch etwas Nicht-Spießiges. Feiern Sie selbst denn grundsätzlich gern? Mir langt’s dann auch ein bisschen. Und es wird ja immer mehr. Allein im nächsten Jahr, ich sehe das jetzt schon mit einem gewissen Grausen, häuft es sich stark. George Steiner, Kundera, Enzensberger, Kunert – die werden alle 80. Und da man bei Feiern ja mehr trinkt als üblich, potenziert sich das. Aber es fördert natürlich auch den schnelleren Verschleiß, unsere Leber wird bald den Geist aufgeben. Ihre ist noch ganz stabil? Ich hoffe. Das Älterwerden – begreifen Sie das eher als Verlust oder als Gewinn? Zunächst mal gibt es eine große Verwunderung: Dass man bei dem Tempo, mit dem heute gearbeitet wird, überhaupt so alt wird, das ist erstaunlich. Diese Anspannung, unter der ich lebe, dass man das überhaupt physisch und mental durchhält, ist für mich ein Wunder. Insofern kommt tatsächlich immer etwas hinzu. Die Eindrücke nehmen nicht ab, ich lerne aus jedem Buch etwas, sonst würden wir es ja nicht machen; ich lese nach wie vor mit großer Hingabe und bin erstaunt, dass mich Sachen immer wieder überraschen. Wie erklären Sie sich dieses Durchhaltevermögen bei Ihnen? Es gibt ja auch genügend Gegenbeispiele. Ich stamme mütterlicherseits von sächsisch-anhaltinischen Bauern ab. Und die haben offenbar eine Begabung, trotz Erschöpfung immer weiterzumachen. Das ist irgendwie eine genetische Sache. Ich kenne Leute, die 65 sind, die sich einfach aufs Ohr hauen und ausgepumpt sind. Andere nehmen sich dann ein Projekt vor und haben dadurch den Kopf frei für andere Sachen. Im Verlag, wenn man den leitet, kann man sich aber nicht auf eine Sache konzentrieren. Man muss immer das Ganze im Auge behalten, jedes Jahr 200 Bücher. Was machen die, kann man da noch etwas tun, sind die Autoren zufrieden? Das heißt, dass man ununterbrochen auf dem Quivive ist, ununterbrochen hinter den Dingen her, ununterbrochen eine Aufmerksamkeitsintensität hat, die nicht nachlassen darf. Und das gilt für alle meine Kollegen, von denen manche bis zur Schmerzgrenze arbeiten. Der Verlag ist nicht so groß, dass man irgendwo oben sitzt und sagt, ich mache nur das oder das. Das wäre auch nicht mein Job. Ich bin jemand, der sich um alles kümmert. Das geht eben von morgens um 8.30 Uhr bis abends um 12. Fühlen Sie sich denn noch genauso fit? Wenn ich viel getrunken habe am Abend fühle ich mich nicht mehr so fit. Das war früher vermutlich genauso. Man lernt ja auch ökonomischer zu sein. Früher hat es mir überhaupt nichts ausgemacht, um 3 Uhr ins Bett zu gehen und trotzdem um 7 aufzustehen. Jetzt geht man gerne um 1 ins Bett. Sie sehen das Älterwerden also eher positiv, weil der Elan geblieben und Erfahrung dazugekommen ist? Ja, Erfahrung kommt dazu. Und noch etwas. Wir leben ja seit fast 20 Jahren in einer Gesellschaft, die Vorhersagen nicht mehr zulässt: 1989 hat keiner vorhergesagt, diese Superkrise jetzt auch nicht. Wer also heute seinen Grips nicht beisammen hat und seine Aufmerksamkeit auf sein Geschäft konzentrieren kann, der ist mit solch einer anfälligen Firma wie unserer überfordert. Die Zeit zur Verarbeitung der Inhalte wird immer kleiner. Wenn ich ein neues Projekt im Verlag habe, kann ich mich damit beschäftigen, aber ich kann nicht die 20 Bücher drumherum lesen. Dann fehlte mir die Zeit für das nächste Buch. Es bleibt also immer ein Ungenügen? Ich bin kein Renaissancefürst – das ist meine Lieblingsidee – der sagt: Ich hole mir die drei besten Mittelalterhistoriker und die tragen mir die neueste Forschung vor. Dann müsste ich nicht jedes dieser Bücher lesen, wäre aber in einem konzentrierten Vortrag von zwei Tagen über die neueste Forschung des Mittelalters unterrichtet. Als Nächstes würde ich die berühmtesten Hirnforscher einladen und so fort. Das ist illusorisch. Ich bin vom Temperament her eigentlich jemand, der alles lesen, alles wissen möchte. Es gibt so viele ziemlich langweilige Menschen auf der Welt, die aufgegeben haben, über irgendetwas Bescheid wissen zu wollen, außer über ihre Familie, ihre Steuererklärung und ihren Job. Das sind vielleicht glücklichere Menschen. Wenn Sie ihr ganzes Leben durch ein Mikroskop gucken und die Bewegungen eines Einzellers beobachten und vielleicht eine ganz tolle Entdeckung machen und dafür den Nobelpreis bekommen, das ist eine tolle Geschichte. Die sind zufrieden, die gucken da durch und alles andere nehmen sie nur am Rand war. Ein Verlagsmensch hingegen muss ein Auge wie eine Fliege haben, das die Breite erfasst. Ich werde kein Forscher mehr werden, ich bin zu alt dafür. Das glückliche Leben als Forscher – wäre das vielleicht eine Alternative gewesen? Eigentlich wäre ich am liebsten Förster oder Biologe geworden. Ein Beobachter. Ornitologe. Herauszufinden, warum die Vögel 5000 Kilometer fliegen können ohne vom Himmel zu fallen und trotzdem punktgenau dorthin zurückzukommen, wo sie losgeflogen sind. Aber das hätte die Konzentration auf das eine erfordert. Hätte darin Ihr Glück liegen können? Das weiß ich nicht. Ich hab’s aufgegeben über Alternativen nachzudenken. Ich weiß nur, was mich interessiert. Der große Baum dahinten, das ist ein Bergahorn, den gucke ich jeden Tag an und überlege mir, wie ein solcher Baum, ein solches Kraftwerk funktioniert. Der muss jeden Tag 300 Liter Wasser haben, mit einer unglaublichen Pumpe muss das bis nach oben bewegt werden. Die Wurzeln mit allen Haarwurzeeln zusammengelegt ergeben eine Strecke von hier bis Danzig. Und es ist trotzdem eine Gestalt, die in größter Ruhe dasitzt, die mit schöner Regelmäßigkeit ab Mitte November das Laub verliert und im Frühjahr wieder anfängt zu blühen. Was da drin los ist! Nach außen vollkommene Ruhe. Wenn man sich das anschaut und denkt, hätte man ein anderes Leben geführt, eines der viel größeren Kontemplation, so wäre das sicher eine Alternative gewesen, aber nun ist es so spät. Kennen Sie jemanden, der so viel arbeitet wie Sie? Außer denen, die mit mir hier zusammenarbeiten, kenne ich einige, die immer so tun, als würden sie überhaupt nicht arbeiten. Das sind die Genies. Hans Magnus Enzensberger sagt immer: »Ach, jetzt bin ich mal eine Weile faul und gucke ein bisschen in der Welt rum.« Und dann, schwupp, sind wieder zwei neue Bücher entstanden. Das heißt, es gibt Leute, die nach außen vielleicht weniger Aktivität versprühen, aber in denen es ständig arbeitet, und das ist ja genauso Arbeit. Ich sage immer, das sind die Bergwerksmenschen, und die haben innen ein unerhörtes Bergwerk mit einem perfekt funktionierenden Betriebsplan, die den Schichtwechsel zwischen Anspannung und Entspannung viel besser kontrollieren können. Das kann ich kaum. Ich kenne zwei Stunden am Tag, morgens von 6 Uhr bis 8 Uhr, da ist bei mir Ruhe, da liege ich entweder im Bett oder sitze am Tisch und schreibe. Aber im Bett ist’s noch viel angenehmer, da kann ich Dinge durchdenken und so in eine Ruhephase kommen. Wenn man das Glück hat, lange über einen Gegenstand nachzudenken, das kann ja zu einer schrecklichen Unruhe, aber auch zu einer großen Ruhe führen. Davon habe ich zu wenig. In einem Selbstinterview haben Sie gesagt, man dürfe Sie nur vor neun oder nach sieben zum Interview treffen, dazwischen müssten Sie arbeiten. Jetzt ist es ein Uhr mittags. Sind Sie nachsichtiger geworden mit sich? Na ja, eigentlich müsste ich jetzt arbeiten, das ist so. Ich sollte nachsichtiger sein, wie sich das für ältere Leute gehört. Aber ich bin nach wie vor entsetzlich enttäuscht, wenn man Bücher macht, die nicht besonders gut sind. Und das gibt’s in jedem Programm. Eigentlich wollte ich immer nur gute Bücher machen, und schließlich sagt man doch: Jetzt muss es gedruckt werden. Und dann, wenn ich es in der Hand halte, denkt man, ach, man hätte doch noch einmal drübergehen müssen. Die Welt ist ja auch nicht nachsichtig mit uns. Vor 40 Jahren, als ich anfing in diesem Beruf, da gab es ein Wort wie Konzern gar nicht, dass heute Konzerne wie Bertelsmann mit zusammen 50 Verlagen wie ein Panzerregiment auf eine Buchhandlung zurollen. Das heißt, wir Kleineren müssen sowieso immer ein bisschen schneller sein, sonst werden wir alle plattgemacht von diesen Walzen. Wer in diesem Beruf ist, der muss unter Strom sein. Wenn ich nachsichtiger werden würde, dann sollte ich hier aufhören. Und mir sagen: Du hast vielleicht noch zehn Jahre zu leben, dann schreibst du vielleicht noch ein paar Bücher in aller Ruhe, guckst den Baum nicht nur an, sondern setzt dich unter ihn. Diese enorme Konzentration auf den Verlag bedeutet auf der anderen Seite ja immer auch den Verzicht auf vieles andere. Bedauern Sie das? Ich würde gern jeden Tag abends vier Stunden für mich haben. Das heißt, ich müsste den Tag um zwei bis drei Stunden verlängern. Ich komme zu wenig ins Kino, zu wenig ins Konzert. Das ist sehr reduziert, all diese Zeit, die man ja gern als freie Zeit bezeichnet, geht jetzt in den Verlag. Die Verschwendung, die schöne Verausgabung, um mit Bataille zu reden, dass der Mensch, diese sehr fragile Angelegenheit aus ein paar Flüssigkeiten, Haut und Knochen, dass der die Möglichkeit hat, die Welt in all ihren Ausdrucksformen wahrzunehmen, und nur durch die Zeit gehindert wird, das zu tun, das ist sehr tragisch. Warum haben Sie sich überhaupt für den Verlag und nicht ganz fürs Schreiben entschieden? Irgendwann, als ich hier Geschäftsführer geworden bin, war das mein Projekt. Und das ist es geblieben. Ich bin nicht so jemand, der hüpft. Ich kann nicht so hüpfen. Es gibt ja Hüpfer. Dafür bin ich innerlich zu schwer. Aber es wäre nicht darum gegangen, zu Bertelsmann zu hüpfen, sondern zu schreiben. Wie gesagt, Hanser wurde mein Projekt. Wie lange werden Sie sich noch darum kümmern? Na ja, das kommt drauf an. Wir haben noch ein paar Baustellen. Das muss ich alles noch abschließen. Ich weiß nicht, wie lang das dauert. Wie lange würden Sie gern noch bleiben? Das weiß ich auch nicht. Mir gehört ja hier nichts. Es gehört ja alles einer Familie, die ist sehr freundlich zu mir. Wenn jetzt ein ganz tolles Genie aufträte, ein junger Typ, der sich sowohl für Literatur und Poesie als auch für die Geistessachen, die hier erscheinen, und für Ökonomie interessierte, und wenn der so überzeugend wäre, dass sowohl die Familie als auch der Aufsichtsrat und ich sagen würden, der ist es, dann könnte ich mich zurückziehen. Würden Sie den gern früher oder später finden? Das weiß ich nicht. Wenn der jetzt zur Tür reinkäme und mich völlig überzeugen würde, dann würde ich die Tür abschließen und den einsperren, damit er mir nicht wieder wegläuft. Natürlich suche ich jemand. Mir ist er bisher nicht untergekommen. Vielleicht muss er auch Vorfahren aus Sachsen-Anhalt haben. Sie hatten hier mal jemanden, dem wurde es schnell zu viel, haben Sie gesagt. Ja, ein intelligenter Mensch, eine treue Seele. Der hat immer abends reingeguckt und gefragt: »Was machen Sie denn da noch?« Da habe ich gesagt: Ich muss den Tisch leer kriegen. Was macht er jetzt? Der hat einen Job gefunden. Lesen Sie immer noch alle Bücher, die hier erscheinen? Ja. Das ist die Bedingung für mich. Nicht für andere. Es gibt Verlage, die so viele schlechte Bücher produzieren, dass man es den Verlegern gar nicht zumuten will, dass sie den ganzen Quatsch auch noch lesen. Das möchte ich meinen schlimmsten Feinden nicht wünschen. Es gibt ja nach wie vor so wahnsinnig viele total überflüssige Bücher. Und die Vorstellung, dass man den ganzen Mist lesen müsste, macht einen ja geisteskrank. Das verstehe ich gut, dass viele Verleger sagen: Das rühre ich nicht mit der Kneifzange an. Wie schwer ist für Sie der Gedanke ans Aufhören, daran, loslassen zu müssen? Ich habe überhaupt keine Sorge, dass ich mich je in meinem Leben langweilen könnte. Ich habe sicherlich 5000 Seiten Notizen, ich würde gern noch ein paar Bücher schreiben. Man hat Angst vor Melancholien, vor Depressionen. Wenn man so arbeitet, wie ich das bis jetzt getan habe, dann lässt man viele Dinge nicht zu, man verdrängt vieles. Manchmal denke ich, um Gottes willen, wenn das alles hochkommt, dann sitzt du da und bist begraben unter Problemen. Haben Sie eine Neigung zum Grüblerischen? Ich glaube schon, dass die Arbeitswelt ein Filter ist, um die Welt nicht ohne jede Bremsung auf einen zusausen zu lassen. Und es gibt genug Gründe in dieser Welt, sich solchen Depressionen zu überlassen. Es ist mir nach wie vor ein vollständiges Rätsel, warum sich die großen Probleme dieser Welt mit diesem unglaublichen Reichtum an Möglichkeiten nicht haben beheben lassen: Hunger, Kindersterblichkeit, Umwelt und so weiter. Wir sind leider ziemlich dumm. Eine letzte große Dummheitsdemonstration ist ja die Krise jetzt, dass man gedacht hat, man könnte das Geld irgendwo hingeben und es so verdreifachen. Das ist eine fantastische Vorstellung. Auf diese totale Ignoranz gegenüber den tatsächlichen Problemen dieser Welt sind eigentlich nur zwei Reaktionen vorstellbar: eine tiefe Depression oder eine grandiose Wut. Lesen Sie die Interviews, die Sie geben, eigentlich selbst gern? Nein. Ich weiß ja schon, was da drinsteht. Warum soll man noch mal lesen, was man gesagt hat? Um sich zu unterhalten, vielleicht? Nein. Ich habe keine große Neigung, mich mit mir selber zu beschäftigen. Ich freue mich immer wahnsinnig, wenn von mir ein Buch erscheint. Aber ich kenne nicht den Ehrgeiz oder die Eitelkeit, dass das Buch überall besprochen werden muss. Da habe ich’s natürlich leichter als andere Autoren, weil ich nicht davon leben muss. Sie sind der Erste unter den deutschen Verlegern. Eitelkeit und Stolz können Ihnen doch nicht ganz fremd sein. Ganz offen gesagt: Wir sind nicht die Ersten. Es gibt doch gottlob in Deutschland eine Menge sehr guter Verlage, von Suhrkamp bis Klostermann, gar nicht zu reden von den so genannten Kleinverlagen, deren Arbeit ich bewundere. Wir wollen einer von diesen besseren sein. Soviel zum Stolz. Und was die Eitelkeit betrifft: Momentan denke ich buchstäblich nur ans Frühjahr. Ich überlege, welches Buch hätte welche Chance. Das ist bis Weihnachten meine ganze Sorge. Der Geburtstag ist nebensächlich. Noch offener gesagt: Es ist mir peinlich, gelobt zu werden. Es ist mir noch peinlicher ... Aber das will ich jetzt gar nicht sagen. Ich denke an mein Frühjahrsprogramm, basta.