FIL Guadalajara – die ersten beiden Tage

1. Dezember 2008
Redaktion Börsenblatt
Wer zur Eröffnung der internationalen Buchmesse (FIL) in Guadalajara kommen möchte, der sollte zwei Dinge mitbringen: Erstens viel Zeit und zweitens ein Fernrohr.
Denn erstens muss man früh erscheinen, um einen halbwegs brauchbaren Sitzplatz zu ergattern. Und zweitens sind diese Sitzplätze für alle diejenigen, die nicht zu den Ehrengästen in den ersten paar Dutzend Reihen gehören, gefühlte Lichtjahre entfernt von dem großen Podium, auf dem sich die Honoratioren versammeln. Gut, bei der 22. Ausgabe dieser wirklich formidablen Veranstaltung, die zum wichtigsten Branchentreffen der spanischsprachigen Bücherwelt geworden ist, haben die Veranstalter ausnahmsweise einmal nicht versucht, einen neuen Rekord für die größte Anzahl von Literatur-Nobelpreisträgern bei einer Buchmesse-Eröffnung aufzustellen: Vor zwei Jahren versammelten sich Nadine Gordimer, José Saramago und Gabriel Garcia Marquez auf dem Podium. Diesmal blieb der Platz des Stargasts für den Portugiesen Antiono Lobo Antunes reserviert, lokale – vom Publikum heftig ausgebuhte - Politgrößen und die Organisatoren selbst füllten den Rest der Plätze. Das Publikum dankte, denn die Veranstaltung geriet deutlich kürzer als in den Vorjahren. Was aber nicht Herrn Antunes anzulasten war: Der erhielt den zum ersten Mal vergebenen „Premio FIL de Literatura en Lenguas Romances“ und dankte geflissentlich und ausführlich. Der Inhalt: Herr Antunes fand, dass er den Preis verdient hat. Wir finden das auch, denn seine Bücher lesen sich wirklich höchst ergötzlich. Später wurde Herr Antunes dann nach der Rolle des Schriftstellers im Allgemeinen gefragt sowie nach seiner Einschätzung der jüngeren Literaten Lateinamerikas. Woraufhin er der jungen Generation jegliche Ernsthaftigkeit absprach. Jüngere Autoren seien, anders als er selbst, weniger an der Kunst interessiert als an ihrem Bankkonto, sagte er. Alle wollten nur noch der „Julio Iglesias der Literatur“ sein. Nun ja, große Literaten müssen nicht unbedingt sympathisch sein, das beweis Herr Antunes immer wieder. Aber sie müssen Vehikel sein für die Stifter der Preise, und da steigt die Effizienz mit der Eitelkeit der Preisträger. Insofern war die Wahl von Antunes eine gute - der neue Literaturpreis setzt an bei einer abrupt beendeten Tradition: Bis 2006 verlieh die FIL jeweils zum Auftakt den Premio Rulfo für Literatur aus Lateinamerika und der Karibik – bis es eben 2006 zum Krach mit den Erben des mexikanischen Nationaldichters Rulfo kam. Denn ausgerechnet Carlos Monsivais hatte in diesem Jahr den Preis erhalten, und der hatte sich des öfteren despektierlich über die literarischen Qualitäten des Schreibtischhelden Rulfo geäußert. Weshalb in der Folge die Namensnennung untersagt wurde – und die fixen Organisatorinnen (jawoll, allesamt Frauen) der FIL das Dilemma zum Neuaufbruch nutzten: Jetzt steht die Tür offen auch für Autoren aus dem alten Iberien, auch Franzosen, Schweizer, Italiener, Rumänen undsoweiter können sich Hoffnungen machen. Und nicht zuletzt können die Veranstalter ihre Akquisitionsbemühungen strategisch untermauern. Clever. Herr Antunes ist beileibe nicht der einzige literarische Star, der den Weg nach Guadalajara gefunden hat. Ken Follett stellte beim Bertelsmann-Ableger Random House-Mondadori ein weiteres seiner vielen Bücher vor, der Nobelpreis-Anwärter Hwang Sok-yong aus Korea ist da, Gabriel Garcia Marquez ist ubiquitär präsent, dazu kommt das deutschsprachige Trio aus Hans-Jörg Schertenleib, Inka Parei und Günter Wallraff. Und vor allem Carlos Fuentes, der tatsächlich der wahre Star der Messe ist: Zum Anlass seines 80. Geburtstags richtet ihm die FIL ein Feuerwerk an Hommage-Veranstaltungen aus, bis hin zur Uraufführung der Oper „Santa Anna“, für die der Großmeister der mexikanischen Literatur das Libretto beigesteuert hat. Am Messesonntag wurde dann auch daran erinnert, dass der Kartenverkauf schleppend ist, Besucher und Aussteller möchten doch bitte den Opernbesuch am Montag in Erwägung ziehen, hieß es. Mal sehen. Wo Antonio Lobo Antunes seine Auftritte vor allem zur Bestätigung der Bedeutung seiner eigenen Person nutzte, da zollte Günter Wallraff seinen mexikanischen Journalistenkollegen den höchsten Respekt: In keinem Land der Welt (außer dem Irak) werden pro Jahr mehr Journalisten umgebracht, vor allem von den Drogenkartellen, denen sie mit ihren Recherchen auf den Pelz rücken. Dabei sind die Journalisten in Mexiko komplett schutzlos: Allzu oft kollaborieren Gesetzeshüter und Kriminelle, bis in allerhöchste Regierungskreise hinein. Wallraff würdigte die Verdienste derjenigen, die trotz dieser elementaren Bedrohung der Wahrheit nachgehen – und geisselte gleichzeitig die fortschreitende Beliebigkeit und Irrelevanz dessen, was in Deutschland als Journalismus durchgeht. Was die Zeitung der Universität Guadalajara zur Schlagzeile bewegte: „Todos somos Wallraff“ – wir alle sind Wallraff. Deutschland könnte sich kaum einen besseren und glaubwürdigeren Botschafter in Sachen journalistischem Ethos wünschen. Auch noch wichtig: Die Nachrichtenagentur AFP berichtet, dass am Sonntag die FIL wegen des Besuches des italienischen Autors Roberto Saviano unterbrochen wurde. Italien ist Gastland der Buchmesse, Saviano wird von der italienischen Mafia wegen seiner kritischen Berichterstattung mit dem Tode bedroht und steht unter Polizeischutz. Klingt logisch und dramatisch. Aber: Wir alle haben nix gemerkt. Keine Unterbrechung. Ente? Ente! So, das Auftaktwochenende ist bewältigt, ab Montag wird drei Tage lang richtig gearbeitet – erst ab 18 Uhr hat das Publikum Zugang. Und auch wir berichten ab Montag ein bisschen fachorientierter. Lesetipp von Martina Stemann, Lateinamerika-Verantwortliche bei der Frankfurter Buchmesse: "Matadoras – nuevas narradoras peruanas“ (Lima: Estruendo Mudo, 2008) – eine Anthologie mit 13 Erzählungen junger Schriftstellerinnen aus Peru. Holger Ehling war Leiter der Unternehmenskommunikation sowie stv. Direktor der Frankfurter Buchmesse und berichtet seit rund 20 Jahren als Reporter und Korrespondent für das Börsenblatt über die Buchmärkte der Welt.