FIL Guadalajara – Dritter Tag

2. Dezember 2008
Redaktion Börsenblatt
Bei der Internationalen Buchmesse in Guadalajara (FIL) beginnt die eigentliche Arbeit für die meisten Aussteller am dritten Tag: Nach dem publikumsoffenen Wochenende ist die Messe vom Montag bis zum Mittwoch für das Fachpublikum reserviert – mit Ausnahme der jeweils letzten drei Stunden des langen Messetags.
Von 18 Uhr bis 21 Uhr hat jeden Tag das allgemeine Publikum Zugang, und die Tapatios, wie die Einwohner der 7-Millionen-Stadt im Westen Mexikos genannt werden, nutzen diese Gelegenheit weidlich. Immerhin verpassten sie am Messemontag den Höhepunkt der deutschen Beteiligung an der diesjährigen Messe: Um 17 Uhr wurde der deutsche Gemeinschaftsstand als schönster Stand der Buchmesse ausgezeichnet. Messechefin Nubia Macias – die selbst vor einigen Jahren als Praktikantin bei der Frankfurter Buchmesse in die Lehre gegangen ist – war es ein sichtliches Vergnügen, den Standverantwortlichen aus Nürnberg und Frankfurt die Auszeichnung zu überreichen, unterstützt von lautstarker Mariachi-Musik. Womit dem traditionellen montäglichen Messeempfang der Deutschen ein höchst angenehmer Auftakt beschert war. Vor das Feiern hatten die Götter aber die Arbeit gesetzt. Was besonders für Nicole Witt gilt, Inhaberin der Literarischen Agentur Mertin in Frankfurt. Die auf spanisch- und portugiesischsprachige Autoren spezialisierte Agentur (u.a. gehört der Nobelpreisträger José Saramago zu den Klienten) vertritt seit mehr als 25 Jahren viele der wichtigsten Autoren des Subkontinents und vermittelt sie weltweit. Wobei Nicole Witt zwar einerseits ein anhaltendes Interesse an den lateinamerikanischen Autoren konstatiert – ein Ausruhen auf den Lorbeeren, die von der goldenen Generation der Fuentes, Garcia Marquez, Vargas Llosa undsoweiter eingefahren wurden, wäre aber fatal. Niemand kauft ein Buch eines jungen Schriftstellers, nur weil ein älterer Kollege berühmt ist, sagt sie. Was logisch klingt. Trotzdem sind internationale Verlage ständig auf der Suche nach neuen Talenten aus Lateinamerika – denn es gibt wenige literarische Regionen, in denen so viele Erzähler tatsächlich mit großer Freude lebensvolle Geschichten erzählen wollen und auch können. Hier wirkt das Erbe der goldenen Generation bis heute stilbildend nach, zur Freude der Leser in der ganzen Welt. Mit Carlos Fuentes ist ein führender Vertreter der goldenen Generation der eigentliche Star der diesjährigen FIL: Sein 80. Geburtstag hat eine große Zahl alter Weggefährten zur Messe gebracht, die ihm in einer schier endlosen Reihe von Veranstaltungen Hommage erweisen. Ob dabei mit Garcia Marquez oder Carlos Monsivais literarische Stars auf dem Podium sitzen oder eine akademische Veranstaltung zur literaturhistorischen Bedeutung von Fuentes stattfindet, stets sind die Veranstaltungen überlaufen, so dass einzelne Bereiche der Messe aus Sicherheitsgründen abgesperrt werden müssen. Solcher Enthusiasmus könnte zu dem Schluss verleiten, Mexiko und darüberhinaus Lateinamerika seien von Literatur- und Lesebegeisterung durchdrungen. Was ein falscher Schluss wäre: Von einer Lesekultur im europäischen Sinne kann leider nicht die Rede sein. Im Rahmen der FIL-Konferenz zum Thema Leseförderung wurde darauf hingewiesen, dass mehr als 6 Millionen Mexikaner im Alter von über 15 Jahren des Lesens und Schreibens unkundig sind. Die Rate der funktionellen Analphabeten liege deutlich darüber, hieß es. Weshalb die Beteiligten von einer existentiell bedrohlichen Krise sprachen – vor dem Hintergrund des blutigen Drogenkriegs, der Mexiko seit Jahren erschüttert, eine beklemmende Aussage. Wo das schnelle Geld mit Drogen lockt, scheint Bildung und Erziehung an Bedeutung zu verlieren, vor allem, wenn legale Beschäftigung rar gesät und schlecht bezahlt ist. Allein im November fielen nach Zeitungsberichten mehr als 700 Menschen dem Drogenkrieg zum Opfer. Wie dies weitergehen soll, weiß niemand. Lesetipp von Nicole Witt: Lucía Puenzo, El nino pez. (Buenos Aires, Viterbo, 2004). Roman aus Argentinien, erscheint 2009 bei Wagenbach. Holger Ehling war Leiter der Unternehmenskommunikation sowie stv. Direktor der Frankfurter Buchmesse und berichtet seit rund 20 Jahren als Reporter und Korrespondent für das Börsenblatt über die Buchmärkte der Welt.