Hunderte Meter lang sind die Schlangen an den Kassen und Eingängen, die Erwartung der Messemacher, dass bis zum Schluss am Sonntag eine gute halbe Million Menschen die Messe besucht haben werden, scheint eher konservativ.
Für die mexikanischen Aussteller beginnt jetzt das eigentliche Geschäft: Im Schnitt kauft jeder Messebesucher tatsächlich ein Buch, quer durch die Sachgruppen, von Comics bis Wissenschaft floriert der Abverkauf.
Für die ausländischen Aussteller, die zumeist nicht am Buchverkauf interessiert sind, beginnt die Periode des Kopfschüttelns no vendemos , lo siento. Die teils riesigen Gemeinschaftsstände aus Lateinamerika wirken verlassen: Bei den Argentiniern ist abgekordelt, bei den Brasilianern sind die Hälfte der Stühle weggeräumt, ein englischer Verlag hat immerhin Prospekte am Stand gelassen, andere Stände sind ganz leer. Und der Betreiber des Messegeländes hat einen Stand übernommen, eine kostbar eingedeckte Tafel angerichtet und wirbt damit für seinen Kongress- und Veranstaltungsservice.
Gerade jetzt aber beginnt auch die intensive Werbephase um das junge Publikum: In einem eigenen Bereich der Messe, der FIL niños, präsentieren Verlage Autoren und Bilderbücher, Geschichtenerzähler sind am Werk und werden geradezu belagert von den Kids. Und die Schulklassen, die in geschlossener Formation auf die Messe gekommen sind, verstreuen sich gackernd und kichernd über das Gelände. Jetzt beginnt, was schon die ganze Zeit über dem Eingang als Motto plakatiert ist: Bienvenido a la fiesta de los libros.
Die Fröhlichkeit, die an diesen Messetagen von den Kindern ausgeht, ist ansteckend leider aber ziehen allzu wenige Eltern in Mexiko daraus die Konsequenz, ihre Kinder regelmäßig mit Lektüre zu versorgen. Ein Grund dafür ist sicherlich das an der Oberfläche höchst positive Engagement der mexikanischen Regierung, die Schüler und Studenten weitflächig mit Lektüre versorgt: Mehr als die Hälfte aller Bücher, die in Mexiko verbreitet werden, gelangen kostenlos in die Leserhände. So schön dies auch sein mag, vor allem für diejenigen, die sich Bücher nicht leisten wollen oder können ordnungspolitisch betrachtet verhindert dieses Vorgehen die Entwicklung von tragfähigen Strukturen für das private Verlagswesen. Was in einer Gesellschaft, in der das freie Wort keine allzu hohe Priorität in der Politik genießt, stets auch eine Bedrohung der demokratischen Strukturen bedeutet.
Das Engagement von Politik und Buchbranche für Jugendliche soll allerdings trotzdem gemeinschaftlich ausgeweitet werden: Rechtzeitig zur FIL wurde das Programm México lee Mexiko liest, vorgestellt. Und das ist ehrgeizig: Lesen und Bücher sollen im Alltag der Mexikaner etabliert, die Strukturen der Buchbranche gestärkt, die 7.000 öffentlichen Bibliotheken modernisiert und die Versorgung von Schulen und Bildungseinrichtungen mit Büchern und modernen Informationsinstrumenten sichergestellt werden.
Wie prekär es um die Strukturen bestellt ist zeigt eine erstaunliche Zahl: Jedes Jahr finden in den 31 Bundesstaaten Mexikos 450 Ferias del Libro, Buchmessen also, statt.
Das heißt allerdings nicht 450 mal Frankfurt im Kleinformat. Sondern: 450 mal wird der Versuch unternommen, gegen die darniederliegende Buchhandelsstruktur anzukämpfen und Bücher zu den Lesern zu bringen. Nur knapp mehr als 1000 Buchverkaufsstellen hat das Riesenland. Die 450 Buchmessen aber öffnen ihre Türen in der Regel nur einmal im Jahr. Danach ist jeweils für ein Jahr Funkstille und die Bevölkerung bleibt unbehelligt von Büchern.
Wodurch der enorme Zustrom der Besucher bei der Buchmesse in Guadalajara wenigstens zum Teil erklärt wäre: Am deutschen und am schweizer Stand tauchten während der Messe Deutschlerner auf, die dafür die Anreise aus entfernten Landesteilen wie Yucatan, Chiapas oder Baja California auf sich genommen hatten.
Womit wir am Ende des heutigen Berichts auf einen weiteren Aspekt des Themas kommen: Die Situation der Kinder aus armen Familien. In wenigen Ländern der Welt verschwinden pro Jahr soviele Kinder spurlos. Allein in Guadalajara sind dies nach Angaben der Provinzregierung pro Jahr mehr als 400 Kinder. Viele werden von Schlepperbanden an illegale Adoptionsvermittler abgeben, viele werden zu Kleinkriminellen abgerichtet. In allen größeren Städten sind heimatlose Straßenkinder ein bedrückender und alltäglicher Anblick.
In Guadalajara haben die Schweizer Doris Bitterli und Werner Surber das Refugio Heidi y Pedro eingerichtet, das Straßenkindern ein Obdach und eine Zukunft geben will. Schauen Sie doch einmal auf die Website:
www.heidi-pedro.org, oder fordern Sie Informationen an unter
heidiypedro@megared.net.mx. Und tun Sie etwas Gutes. Weihnachten steht vor der Tür.
Lesetipp von Ursula Stump, Honorakonsulin der Schweiz in Guadalajara: Jean Shinoda Bolen: Las diosas de cada mujer (Ed. Kairos, Barcelona). Über Frauenpower und woher sie kommt.
Holger Ehling war Leiter der Unternehmenskommunikation sowie stv. Direktor der Frankfurter Buchmesse und berichtet seit rund 20 Jahren als Reporter und Korrespondent für das Börsenblatt über die Buchmärkte der Welt.