Kürzlich ist es wieder passiert. Einem Bekannten, der an der Psychoanalyse laboriert, wollte ich »Tiefenschwindel« schenken, eines der klügsten Bücher des Nabokov-Spezialisten und exzellenten Wissenschaftsvermittlers Dieter E. Zimmer. »Tiefenschwindel« ist eine von kritischem Furor angetriebene, ungemein reichhaltige Auseinandersetzung mit den Theorien Sigmund Freuds, ein denkanregendes Werk, das auf meiner ewigen Sachbuch-Bestenliste ganz weit oben steht. Aber von der Buchhändlerin bekam ich zu hören: »Gibts nicht mehr, vergriffen!«
Man möchte es kaum glauben, angesichts der Menge belangloser Novitäten allen voran die Stapelware, mit der viele TV-Prominente ihren Aufmerksamkeitsbonus geltend machen und Millionen Stunden Lesezeit abschöpfen. Seufzend reihte ich »Tiefenschwindel« in meine wachsende Bibliothek der verbannten Bücher ein. Dazu gehören seit Jahren auch zwei der bedeutendsten deutschen Romane des 19. Jahrhunderts: Karl Immermanns Generationenepos »Die Epigonen« und sein komisch vertrackter, die Exzesse von Idealismus und Romantik parodierender Tausendseiter »Münchhausen«. Große, in ihrer brüchigen Realitätserfahrung erstaunlich frische Lektüren; wer Glück hat, wird im Antiquariat fündig.
Aber es geht nicht nur um aus dem Kanon gefallene Klassiker. In diesem Jahr hat Lukas Bärfuss für seinen Ruanda-Roman »Hundert Tage« viel verdientes Lob erhalten solche abgründig-doppelbödige Weltläufigkeit ist neu in der deutschen Gegenwartsliteratur. Oder doch nicht ganz, denn vor nicht einmal zehn Jahren hat Hans Christoph Buch zwei Werke veröffentlicht, denen klare Vorläuferqualitäten zukommen: »Kain und Abel in Afrika« und »Blut im Schuh«. Sehr lesenswert, aber beide längst vergriffen.
Buch ist nicht der einzige Gegenwartsautor, der unermüdlich weiter produziert, obwohl sein Werk hinter ihm zu zerfallen scheint wie der Kondensstreifen hinter einem Flugzeug. Nur noch wenige Schriftsteller können sich darauf verlassen, dass ihr uvre von einem Verlag gepflegt wird. Die Taschenbuchkultur, die lange für Konstanz sorgte, indem sie frühere Titel verfügbar hielt, droht selbst zum Durchlauferhitzer für Aktuelles zu werden. Buchhandlungen, die sich noch backlistbewusste Taschenbuchregale leisten, sind selten geworden, und die Verlage stellen sich darauf ein.
So rast das Novitätenkarussell. Rezensionen, die vier Monate nach Erscheinen eines Romans gedruckt werden, »können Sie sich lieber gleich sparen«, meinte jüngst ein Verlagsmensch zu mir, der offenbar von der minimalen Halbwertszeit seiner Produkte überzeugt war. Während sich die dem Moment verpflichtete Popkultur als überraschend zählebig erweist und Rockveteranen gut verdienen, wenn sie ihre jahrezehntealten Songs dem anhänglichen Publikum vorspielen, stehen Schriftsteller, obwohl sie Tausende von Seiten gefüllt haben, mit leeren Händen da. Wer nichts Neues hat, hat nichts.
Jedes Zeichen, das gegen die Schnelllebigkeit des Betriebs und die erschreckende Verflüchtigung der Bücher gesetzt wird, ist deshalb willkommen. Jüngst hat der Verleger Vito von Eichborn eine Suchanzeige aufgegeben: Vergessene und vergriffene Bücher dringend gesucht! Eine »Edition Zweite Chance« scheint da Konturen anzunehmen einmalige Neuauflagen von 1 000 Exemplaren sind anvisiert. Das klingt vielleicht nicht großartig, aber immerhin. Es ist eine Idee, die hoffentlich Schule macht. Remittende reloaded!
Welche Bücher verdienen es, neu aufgelegt zu werden? Und welche wären besser nicht erschienen?