Lob des verkehrten Buchs

19. Dezember 2008
Redaktion Börsenblatt
Für alle, denen auf den letzten Metern des Weihnachtsgeschenke-Marathons die Puste auszugehen droht: Was es doch noch alles zu bedenken gibt, wenn man die Liebsten beschenkt und warum das falsche Buch manchmal das richtige ist. Von Georg Klein.
Ausgerechnet vor Weihnachten mühen wir uns ganz besonders ab, vernünftig zu sein. Und wie in den Jahren zuvor hat unsere adventlich aufgedrehte Ratio erneut versucht, eine bestimmte Sache auf keinen Fall verkehrt zu machen: Jeder, der ein Buch von uns geschenkt bekommt, soll partout das »richtige« Buch erhalten! Zu dieser Richtigkeit gehört zunächst der schlichte Umstand, dass der Beschenkte das fragliche Werk noch nicht gelesen hat. Wer wäre mehr zu bemitleiden, als jener Ehemann, der hören muss, dass just der Roman, den er seiner Angetrauten unter dem Weihnachtsbaum zusammen mit dem obligatorischen Parfüm überreicht, erst vor kurzem – Seine vergesslichen Ohren sollen dabei gewesen sein! – als der letzte Mist vor das Nachttischlämpchen gepfeffert worden sei? Kein Wunder also, dass man als Bücher-Schenker zu heimlichen Recherchen und konspirativen Absprachen neigt. Ein mir freund-schaftlich verbundender Viel-Leser, ein wahrer Literatur-Maniac, wird vermutlich nie erfahren, dass seine Frau Evelyn und seine drei erwachsenen Kinder sich vor Weihnachten nacheinander mit seinem Stammbuchhändler beraten und dann mit einer schon traditionellen Telefonkette Doppelanschaffungen zu verhindern wissen. Dergleichen ist, wie ich zurückliegenden Herbst, während eines Sibirien-Aufenthalts, begriffen habe, auf eine für uns typische, auf eine kleindeutsch charakteristische Weise falsch. Denn gerade unser verbohrtes Bemühen, um Himmelswillen ja das »richtige« Buch zu schenken, verhindert unter Umständen das Beste: jene besondere, ja magische Glücksmöglichkeit, die das »verkehrte« Buch in sich birgt. In Russland, am Ende der bleiernen Breshnew-Zeit, hat sich nämlich folgendes zugetragen: Ein junges Paar hatte die Unbill sozialistischer Planwirtschaft über tausend Kilometer weit auseinandergerissen. Dennoch schafften es die beiden zum Jahreswechsel zusam-menzukommen. Beide hatten sich vorher die Hacken abgelaufen, um auf den krummen Wegen, zu denen das Misstrauen der Machthaber damals zwang, für den lesehungrigen Liebsten irgendein ungewöhnli-ches Buch aufzutreiben. Es gelang ihnen jeweils in letzter Minute. Beide ergatterten mit List und Tücke, unter Einsatz von Beziehungen und mit Hilfe geschickter Gegengaben, ein Buch, an das sie zuvor gar nicht gedacht hatten: Das Werk eines bürgerlich dekadenten Denkers, einen wirklich raren Schmöker, ein Kleinod des marxistisch-leninistisch verriegelten Giftschranks! Unter den vielen Möglichkeiten, an Festtagen ein verkehrtes Buch zu schenken, gibt es eine, die angeblich unüberbietbar verunglückt ist. Man überreicht jemandem just das Buch, das man von dieser Person im selben Lichterglanz entgegengehalten bekommt. Und so erstarrten unsere russischen Liebesleute in märchenhaftem Erstaunen darüber, dass sie beide an Neujahr das gleiche abseitig unvorhersehbare Buch als Geschenk in den Händen hielten: Die russische Übersetzung von Sigmund Freuds »Die Zukunft einer Illusion«! Seit meine Gattin und ich diese Geschichte an einem Tisch im nächtlichen Novosibirsk, zunächst störrisch ungläubig, bald gerührt gläubig, vernahmen, ahne ich, zu welchem Zauber selbst Werke der Vernunft, ja sogar die Bücher der größten Desillunionisten, taugen können. Erwartungsvoll sehen ich den kommenden Geschenken ent-gegen. Auch mir blüht vielleicht ein vergleichbar großartig verkehrtes Buch: Ein Buch, bei dessen bloßem Anblick ich – wie an einem weih-nachtlich weißen Fallschirm! – aus all den dichtgeballten und erzgrauen Wolken meiner Ratio stürze!